Sie waren einer der ersten Kunstschaffenden im Künstlerlabor SymbioticA der University of Western Australia und sind bis heute dort tätig. In Ihrer künstlerischen Praxis arbeiten Sie kontinuierlich mit Wissenschaftler*innen, Ingenieur*innen, Musiker*innen und anderen Künstler*innen zusammen. Inwiefern verändert die interdisziplinäre Arbeit, neben ihrer Haupttätigkeit im Labor, die künstlerische Praxis?

Guy Ben-Ary: Ich bin mir nicht sicher, ob „verändern“ der richtige Begriff ist. Ich würde eher „anregen“ sagen. SymbioticA ist eine sehr inspirierende Umgebung. Künstler*innen und Forschungsstipendiat*innen aus verschiedenen Bereichen, Wissenschaftler*innen, Kliniker*innen und Biomedizintechniker*innen arbeiten in unmittelbarer Nähe zueinander. Ich werde laufend mit neuen Ideen und Techniken „bombardiert“ und auf diverse Forschungsprojekte aufmerksam gemacht. Nach 15 Jahren lerne ich hier noch immer jeden Tag viel Neues dazu. Die Idee zu In-potentia kam mir im Labor, als ich sah, wie Doktorand*innen Vorhautzellen kultivierten. Und die Idee zu cellF entstand während eines Vortrags, den ein Stammzellenbiologe im Rahmen der wöchentlichen Seminarreihe der Hochschule hielt. Der große Vorteil ist, dass es hier (fast) immer jemanden gibt, der „sich auskennt“, anleiten oder helfen kann oder nützliche Informationen liefert.

Ihr Medium besteht aus einer Zellkultur in einem Labor. Inwiefern lässt sich das Ergebnis als Kunst im Gegensatz zu rein wissenschaftlicher Forschung definieren?

Was Zellkulturen als Kunstwerke angeht, so betrachte ich sie als eine der größten Herausforderungen für sogenannte „Bio-Künstler*innen“. Sobald ich das Laborprotokoll ausgearbeitet habe und mein Arbeitsmaterial genau kenne, befasse ich mich mit Bildsprache und ästhetischen Ausdrucksformen. In den vergangenen Jahren habe ich verschiedene Umgebungen/Technologien entwickelt, die es mir ermöglichen, lebende Kulturen in die Galerien mitzunehmen. cellF ist ein gutes Beispiel dafür. Dieses Objekt mit seiner ganz spezifischen Ästhetik fungiert nicht nur als Musikinstrument. Es ist auch ein vollfunktionsfähiges Biologielabor mit einem Präzisions-Inkubator für Gewebekulturen und einer Sicherheitswerkbank der Klasse 1, die das neuronale Netz unter Laborbedingungen am Leben erhält.

Und was halten Ihre Kolleg*innen aus der Wissenschaft davon, einem Projekt Ressourcen zur Verfügung zu stellen, das nicht unbedingt die in der wissenschaftlichen Forschung üblichen Resultate liefert?

Wissenschaftler*innen sammeln Daten. Wir dagegen bringen Zellkulturen in Galerien und stellen Fragen, um eine Kulturdebatte in Gang zu bringen. Das ist etwas ganz Anderes. Ich denke, die Wissenschaftler*innen, die mit uns arbeiten, sind sich der Bedeutung von kultur- und naturwissenschaftlicher Forschung gleichermaßen bewusst. Andernfalls würden sie nicht mit uns zusammenarbeiten.

Die Moderne hat das Individuum über das Kollektiv gestellt. In der Kulturproduktion mündete das im Mythos vom Künstlergenie und der einzigartigen Individualität des künstlerischen Schöpfungsaktes. Doch Ihre Arbeit und ein großer Teil der neuen Kunst an der Schnittstelle von Wissenschaft und Technologie sind vor allem geprägt von fachübergreifenden, komplexen Kollaborationen. Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel hinsichtlich der Frage, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert ein Kunstwerk zu erschaffen?

Von einem „Paradigmenwechsel“ würde ich nicht sprechen. Es gibt weiterhin zahlreiche Formen von Kunst, die keine Kollaborationen erfordern. Doch wenn es um Projekte im Zusammenhang mit Technologie, Biologie und Robotik geht, und das betrifft definitiv meine Forschung zu Kunst, ist gemeinsames Arbeiten weit verbreitet. Das liegt an der Komplexität der Projekte und der Vielzahl an Kompetenzen, die der Schaffensprozess verlangt. cellF ist mein Selbstporträt, anfangs hielt ich es deshalb für angebracht, es selbst zu entwickeln. Aber das war ziemlich naiv. Zur Vollendung des Werks haben schließlich folgende Forschungs- und Produktionsbereiche beigetragen: Gewebekultur, Gewebekonstruktion, Neurowissenschaften, Zellbiologie, Stammzelltechnologien, Molekularbiologie, Elektrophysiologie, Mikroskopie, Elektrotechnik, Materialwissenschaft und Werkstofftechnik, Ingenieurwissenschaften, Design, Sound, Musiktechnologie und viele mehr. Ohne die vielen Unterstützer*innen hätte ich es nie geschafft. Sie alle waren gleichberechtigt am Projekt beteiligt, obwohl es ein Selbstporträt ist.

Sie haben cellF initiert, ein Objekt, das von einer völlig autonomen Nervenzellkultur aus Ihrer DNS gesteuert wird. Seine Reaktionen auf den Input verschiedener Musiker*innen beweisen Handlungsmacht auf Zellebene. Die Kultur (mit schätzungsweise 100.000 Neuronen) entspricht nur einem Millionstel der Größe des menschlichen Gehirns und verfügt nicht über dessen komplexe Struktur. Wir dürfen annehmen, dass sie nicht über ein „Bewusstsein“ im herkömmlichen Sinn verfügt. Aber cellF agiert und reagiert auf die menschlichen Musiker*innen. Kann man da nicht von „neuronaler Subjektivität“ sprechen?

Das ist eine sehr spannende Frage, die sich nicht so leicht beantworten lässt. Die kurze Antwort: Ich weiß es nicht. Ich stimme zu, dass es unsinnig wäre, von Bewusstsein oder Intelligenz zu sprechen. Dazu fehlt es diesen Kulturen an Komplexität. Aber nachdem ich cellF live erlebt habe, glaube ich, dass wir möglicherweise von einer einfachen Form von Emergenz sprechen können. Ich halte diese Nervenzellkulturen für aktiv und reaktiv. Viel interessanter ist aber, dass sie Vitalität zeigen, was sie dazu anregt, zu tun, was sie tun. Diese neuronalen Netze sind sehr einfach (sie bestehen aus nur 100.000 Neuronen und wachsen zweidimensional). Und doch verwende ich bewusst lebende Nervenzellen, um Betrachter*innen dazu anzuhalten, sich mit den zukünftigen Möglichkeiten von Neurotechnik und Stammzellentechnologien auseinanderzusetzen – und diese Technologien, die außerhalb der Wissenschaftsgemeinde größtenteils unbekannt sind, kritisch zu beurteilen. So simpel oder symbolisch diese Gehirne auch sein mögen: Sie produzieren Daten, sie reagieren auf Reize und sie haben eine gewisse Lebensspanne.

cellF ist bereits bei sieben Konzerten aufgetreten. Im Haus der Kulturen der Welt erleben sie ihre Europapremiere mit Schneider TM und anschließend Stine Janvin. Was hat Sie an Nervenzellkulturen, die mit menschlichen Musiker*innen interagieren und gemeinsam Musik machen, am meisten überrascht?

Jeder Auftritt ist anders. Alle bisherigen Performances waren auf unterschiedliche Art interessant. Wenn die Neuronen auf menschliche Musiker*innen reagieren, bin ich jedes Mal wieder begeistert. Ich interessiere mich sehr für menschliche/nicht-menschliche Kommunikation. Wenn ich wahrnehme, dass Musiker*innen und Nervenzellen miteinander kommunizieren, ist das überwältigend. Das war bisher bei den meisten Auftritten der Fall, und ich hoffe, dass wir noch mehr davon erleben werden. Die neuronalen Netze verkörpern unsere Hoffnungen und Ängste angesichts einer ungewissen Zukunft. Sie veranschaulichen, auf sehr unmittelbare Weise, gängige Vorstellungen von Bewusstsein und Intelligenz ohne Körper. So vermitteln die von mir geschaffenen neuronalen Entitäten vielleicht den Eindruck, dass wir kurz davor stehen, Intelligenz oder Bewusstsein aus der Retorte produzieren zu können. Aber am Ende sind diese Geschöpfe eben doch nichts weiter als eine Leerstelle für unsere Zukunftsphantasien.