Woher kommt Ihr Interesse an Eisenbahnen?
Meine ursprüngliche Idee war, zu untersuchen, was Eisenbahnen uns über ihre Umgebungen und unser Leben erzählen können. Nicht nur über funktionale Tatsachen zu sprechen, sondern darüber hinaus zu gehen. Seit ich ein Schulmädchen in Palästina war, faszinieren mich Eisenbahnen. Damals war es uns nicht erlaubt, palästinensische Literatur zu lesen. Aber es gab eine Erzählung, die in den Augen der Zensoren als „sicher“ galt. Es ging um einen Mann, der sich in eine Uhr verwandelte, nachdem er erlebt hatte, wie sein Sohn, der sich für die Arbeit verspätet hatte, in Eile auf die Eisenbahnschienen gefallen war. Die offensichtliche Interpretation war die Verwandlung eines Menschen in eine Maschine, wobei die Maschine zum Sinnbild des Lebens wurde. Aber für mich als Kind gab es eine tiefere narrative Ebene: Wir waren so an das tägliche Leben unter der Besatzung, an Unterdrückung und Rassismus gewöhnt, dass unsere größte Sorge bestimmt nicht war, ob wir zu spät zur Arbeit oder zur Schule kamen. Trotzdem führte diese Erzählung uns ein Leben ohne Besatzung vor Augen. Denn die Eisenbahn, die wir nicht mehr hatten, stand für ein normales Leben, in dem Menschen sich einfach bewegen konnten. Die Realisierung, dass es einmal Normalität in unserer Region gegeben hatte, war eine echte Offenbarung. Seitdem freute ich mich auf die erste Zugfahrt meines Lebens, die dann 1990 tatsächlich in Berlin stattfand.
Hatte die Immobilität Ihrer Jugend einen großen Einfluss auf Sie als Schriftstellerin?
Auf jeden Fall. Allgemein ist das Interesse an Zügen in der Region des östlichen Mittelmeers weit verbreitet. Weil es sie dort eben nicht gibt und weil sie die utopische Welt der Bewegung symbolisieren. Ich spreche von einer Region, die heutzutage vollkommen gespalten ist. Allein die Idee, dass vor 100 Jahren eine Eisenbahn gebaut wurde, um all die Orte auf den Routen Berlin–Bagdad und Istanbul–Hedjaz miteinander zu verbinden, ist heute kaum vorstellbar. Mir wurde irgendwann klar, dass all meine fiktionalen Figuren sich nie bewegen. In meinem zweiten Roman liegt jemand über 40 Seiten lang im Bett, und das machte mich stutzig. Ich fing an, das zu untersuchen, und stellte fest, dass viele meiner palästinensischen Kolleg*innen dasselbe in ihren Texten machen: Ihre Figuren bewegen sich auch nicht. Wenn man sich die palästinensische Literatur anschaut, sieht man, dass je nach der Zeit, in der sie geschrieben wurde, der Bewegungsradius in den Narrativen schrumpft. Weshalb ich noch überraschter war, als ich einen Text von 1917 entdeckte, in dem der palästinensische Denker und Schriftsteller Khalil al-Sakakini zwei Seiten lang eine Reise beschreibt, die er von Jerusalem nach Damaskus unternommen hatte. Eine Freiheit, die heutzutage undenkbar ist und damals vor allem durch Züge ermöglicht wurde.
Es entstanden sogar intellektuelle Bewegungen aus der Tatsache, dass Mobilität in der Region damals generell möglich war.
Nun, das war nicht nur wegen der Züge so, aber die Eisenbahn verbesserte die Beweglichkeit der Menschen, von Ideen und von Büchern. Und das ist es, was mich interessiert: wie Ideen reisen. Die arabische Renaissance, al-Nahda, ist ein gutes Beispiel. Khalil al-Sakakini war nicht nur in Palästina einer der führenden Denker dieser Bewegung, sondern in der gesamten Region – von Ägypten bis Syrien und dem Libanon und darüber hinaus. Er stand im Zentrum einer Bewegung, die auf unterschiedlichen Ebenen, von politischen Systemen bis hin zu Bildungssystemen, nach Reformen strebte, bis sie von der Kolonialisierung zerschlagen wurde. Es gab eine unglaubliche Bewegung von Intellektuellen. Denn obwohl die Behörden des Osmanischen Reiches sich mehr für Wirtschaft und Infrastruktur interessierten, traten immer mehr arabische Denker*innen im späten 19. Jahrhundert hervor. Sie reisten mit der Eisenbahn zu den Hafenstädten, wo sie Schiffsreisen antraten, um zu noch weiter entfernten Orten zu gelangen, wie Europa und Nord- und Lateinamerika. Dies beförderte einen neuen Austausch und setzte Denkprozesse in Gang. Die Übersetzung der Bibel ins Arabische beispielsweise und die Modernisierung der arabischen Sprache fanden zu dieser Zeit statt. Über die vergangenen 20 Jahre erleben wir eine Art Revival dieser Zeit – das Ergebnis lässt sich in den arabischen Aufständen von 2011 betrachten. Heutzutage verlassen die Menschen sich allerdings auf digitale Verbindungen statt auf die Eisenbahn.
Und wie werden ein paar 100 Jahre alte Eisenbahnschienen im Haus der Kulturen der Welt zum Leben erweckt?
Ich sehe sie als Zeugen, als mikrohistorische Dokumente, wenn man so will, nicht als etwas, das die großen Narrative der historischen Archive transportiert. Erstens, weil das Archivmaterial problematisch ist, was die Perspektive angeht. Weil es mit Institutionen der Großreiche assoziiert wird, die die Möglichkeiten hatten, sie anzulegen. Und zweitens, weil wir auch erkunden möchten, welche Rolle die Eisenbahn in der Literatur, Archäologie, im Kolonialismus und in unserer Fantasie spielt. Wir interessieren uns für historische Machtverhältnisse und möchten sehen, wie die Gegenwart immer noch von deren Dynamik beeinflusst wird. Man könnte unseren Ansatz schamanisch nennen, da wir uns nicht wirklich für von Menschen verfasste Darstellungen über eine bestimmte Region interessieren, sondern eher für den Einfluss des Objekts selbst – der Eisenbahn, also für den mechanischen Einfluss auf den Menschen. Wir wollen die Perspektive verschieben. Statt über die Eisenbahn zu sprechen, möchten wir, dass die Eisenbahn über uns spricht.
Wie werden die Teilnehmer*innen involviert sein?
Die eingeladenen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Denker*innen betrachte ich als Vermittler*innen zwischen dem Publikum und der Eisenbahn. Sie werden über deren Einfluss auf uns sprechen. Mit anderen Worten: Wir werden Explorationen dessen präsentieren, was Maschinen und die mechanische Welt uns über uns selbst und unsere Vergangenheit und Gegenwart sagen können. Wir werden Stadtlandschaften und deren Verbindungen zur Modernisierung betrachten. Wir werden die Funktionen der Eisenbahn im Zweiten Weltkrieg untersuchen. Und, um in die jüngere Geschichte zu gehen, erörtern, wie Migrant*innen im Sommer 2015 an den Eisenbahnlinien entlanggelaufen sind – Migrant*innen, die über die Balkanroute nach Deutschland kamen, auf der Flucht vor Kriegen, die immer noch auch mit der Geschichte des Kolonialismus zu tun haben. Außerdem haben wir Künstler*innen eingeladen, die die Eisenbahn als Manifestation einer imperialen Zukunft erörtern. Beispielsweise Shahana Rajani & Zahra Malkani aus Pakistan, die das Eisenbahnnetz in Karatschi untersuchen. Uns interessiert auch die Frage: Wie wäre es, wenn die Eisenbahn sprechen könnte? Musa paradisiaca, ein Kunstkollektiv aus Portugal, das zur Beziehung zwischen Mensch und Maschine arbeitet, wird versuchen, diese Frage zu beantworten. Vielleicht werden die Schienen am Ende also tatsächlich „sprechen“ können.
Wie kommen die Künstler*innen damit klar, auf die Rolle von Vermittler*innen reduziert zu werden, die den Weg freimachen für die Maschine?
Ich bin ihnen allen sehr dankbar dafür, dass sie so großzügig an einem solchen Experiment teilnehmen. Besonders in Zeiten wie diesen, wo alles um die Zentralität des Ichs geht. Wenn wir Glück haben, wird das Projekt sich in einen Moment des Teilens zwischen diesen sehr unterschiedlichen Menschen verwandeln, die, in ihrer eigenen Arbeit, sehr daran interessiert sind, die menschlichen Perspektiven und Machtverhältnisse, die sich aus ihnen ergeben, zu erkunden und zu problematisieren. Das ist eine mögliche Art, alternative anstatt dominante Narrative zu erkunden.