Geht es bei Schools of Tomorrow darum, den Begriff des Lernens neu zu definieren – um das Hinterfragen einseitiger Perspektiven und etablierten Wissens?

Silvia Fehrmann: In der zeitgenössischen Kunst, aber auch unter kritischen Wissenschaftler*innen geht es ja schon seit ein paar Jahren genau um solche Fragen. Das ist natürlich auch ein Hintergrund für die kulturelle Bildungsarbeit am HKW. Bei Schools of Tomorrow geht es uns aber vor allem darum, wie sich Schule anders denken lässt. Dafür müssen wir zunächst definieren, welche Gesellschaft wir wollen. Denn es ist ja nicht so, dass die Zukunft festgeschrieben ist: Unsere Vorstellungen davon prägen Schulen mit. Wie also könnte eine Schule aussehen, die Zukunft gestaltet? Wie wird aus einer statischen Institution ein dynamisches Netzwerk, das gesellschaftlich verortet ist und Veränderungen bewirkt? Bei der Zusammenarbeit mit Bildungstheoretiker*innen, Künstler*innen, Schüler*innen und Lehrer*innen stehen diese Fragen im Zentrum, damit neue Formate und Strategien für mehr Teilhabe von Kindern und Jugendlichen entstehen können.

Herr Seitz, Sie sind als Medienpädagoge eingeladen über neue Formate nachzudenken, die den Schüler*innen mehr Handlungsspielraum einräumen. Findet eine solche Demokratisierung an Schulen nicht längst statt?

Daniel Seitz: Das wäre schön, aber ich erlebe das so nicht. Eine echte Beteiligungskultur gibt es an vielen Schulen doch immer noch nicht. Noch immer wird in äußerst engen Strukturen gearbeitet, die offensichtlich nicht funktionieren: Der Unterricht ist eng getaktet, und es gibt einen Fächerkanon, der fürs spätere Leben kaum Relevanz hat. Natürlich finden mittlerweile auch Projektlernen und andere alternative Formate statt – aber in modellhafter Weise und nicht in der Fläche. In Deutschland gibt es etwa elf Millionen Schüler, und davon kommen wenige Hunderttausend in den Genuss eines wirklich moderneren Unterrichts. Die anderen müssen sich eine Schulform gefallen lassen, die vor 50 oder 100 Jahren entstanden ist.

Wie ließe sich mehr Teilhabe denn praktisch umsetzen?

Silvia Fehrmann: Es gibt weltweit verschiedenste spannende, experimentelle Schulansätze. Ein Beispiel: In New York gibt es die öffentliche Schule Quest To Learn, die wir auch bei der Konferenz vorstellen werden. Das ist eine klassische Public School, mit Klassen von der 6. bis 12. Stufe, deren Lehrplan aber komplett spielbasiert ist. Was nicht heißt, dass Lernen nur in digitaler Umgebung stattfindet. Im Gegenteil: Die Schule versteht sich als Knotenpunkt für schulische und außerschulische Lernmomente, als Katalysator für die Zusammenarbeit zwischen Mentor*innen, Kunstinstitutionen und sozialen Akteuren. Digitale Tools kommen selbstverständlich zum Einsatz, aber die Lernprozesse sind auf gemeinsames Handeln ausgerichtet, wie es in Online-Spielen eben der Fall ist. Denn die Lücke zwischen der Alltagspraxis von Kindern und Jugendlichen und dem, was an Schulen passiert, ist auffällig: Jugendliche skypen abends mit dem Onkel oder der Oma, im Fremdsprachenunterricht wird Skype aber beispielsweise nicht einbezogen. Und da kommt für mich John Dewey mit seiner „progressive education“ ins Spiel. Denn er hat bereits 1915 experimentelle Ansätze untersucht, die sich mit den Veränderungen der damaligen Zeit auseinandersetzten. Vor ähnlichen Aufgaben stehen wir heute.

Gerade die Offenheit im digitalen Bereich macht einigen Lehrer*innen Angst, sie fürchten um die eigene Relevanz. Wie sehen Sie das Herr Seitz?

Daniel Seitz: Ach ja, die alte Angst von Menschen, die mit Menschen arbeiten. Eigentlich ist es doch der Job von Pädagog*innen, sich überflüssig zu machen. Zumal es ja auch gar nicht so passieren wird. Die alte Rolle des Lehrers, der Wissen in die Köpfe von Schüler*innen schaufelt, wird es zwar hoffentlich bald gar nicht mehr geben. Aber auch in neuen Strukturen brauchen die Kinder natürlich Lernbegleiter. Sie wachsen heute alle mit Internet auf, haben ein hohes Nutzungswissen, aber für das Ordnungswissen, das dazu gehört – wie ordne ich Medien ein, welchen Informationen traue ich – dafür braucht es Lehrer*innen.

Also keine Angst mehr vor zu viel Internet?

Daniel Seitz: Nein, mit dem richtigen Umgang nicht. Dann geht der spielerische Ansatz nämlich auch auf. Der anarchische Charakter des Netzes bietet Kindern ja enorme Freiräume. Das ist eine wichtige Alternative zu den oft starr formalen Strukturen des Schulalltags, auch um unser vernetztes Denken heute zu verstehen. Und die Kinder, die beispielsweise zu Jugend hackt kommen, versuchen ja auch tatsächlich, durchs Programmieren ein wenig die Welt zu verändern. Insgesamt würde ich das Digitale allerdings nicht so sehr in den Fokus stellen. Kinder leben heute in einer postdigitalen Welt, die verstehen gar nicht mehr, was Digitalisierung überhaupt bedeuten soll.

Silvia Fehrmann: Die Frage ist doch, wie gelingt es, einen kritischen und kreativen Umgang mit digitalen Entwicklungen und sozialen Medien zu fördern. Die Schulabsolvent*innen von morgen werden es mit dem Internet of Things zu tun haben, mit nichtmenschlicher Intelligenz zusammenarbeiten, in sogenannten „smart cities“ leben. Da ist es notwendig, zu durchschauen, wie Geräte, Daten, Software, Netzwerke unser soziales Leben organisieren – dass man aber deren Programme und Protokolle auch umschreiben kann.

Wie relevant ist denn da der reformpädagogische Ansatz von einst für unsere Schulen heute?

Silvia Fehrmann: Pauschal lässt sich das kaum sagen. In der reformpädagogischen Bewegung koexistierten kritische, fortschrittliche Ansätze mit anti-modernen Ausrichtungen. Letztere predigten den Rückzug aufs Land, legten teilweise wenig Wert auf die Selbstbestimmung der Kinder. Unter den verschiedenen Strömungen der „progressive education“ aus den USA und Lateinamerika gibt es stattdessen Ansätze, die für uns heute produktiv sind: Strategien zur Demokratisierung des Wissens, Experimente, die aus den Klassenräumen ausbrechen und den Stadtraum erschließen, Versuchsanordnungen, die mit Kunst die Welt erschließen.

Urbanes Lernen ist da das Stichwort – was genau bedeutet das?

Silvia Fehrmann: John Dewey hat sich damals mit drei Umbruchsprozessen beschäftigt: Industrialisierung, Migration und Urbanisierung. Er untersuchte Schulprojekte, die sich damit auseinandersetzten, welche Erfahrungen und Kompetenzen Kinder im neuen Stadtraum mit seinen großen Straßen und überfüllten Mietwohnungen brauchen . Damals entstand der Ansatz, dass forschendes Lernen im Stadtraum wesentlich ist für ein Verständnis für die Gesellschaft, in der man lebt. Moderne wurde da nicht abgelehnt, sondern man hat sich pro-aktiv mit der Stadt auseinandergesetzt. Ein Beispiel ist die Berliner Großstadtpädagogik der 1920er Jahre, um die es auch im Kongress gehen soll, oder in der Gegenwart die Arbeit des New Yorker Centre for Urban Pedagogy, das Stadteinwohner*innen zum aktiven Engagement befähigt.

Klingt nach einem Ansatz, der auch heute für sämtliche Großstadtschulen relevant sein könnte.

Silvia Fehrmann: Ja, schon, viele der reformpädagogischen Ansätze sind auf die eine oder andere Art in Deutschland im Mainstream verankert. Heute besteht allerdings die Gefahr, dass experimentelle Innovationen in privaten Schulen erprobt werden, öffentliche Schulen dagegen immer mehr unter dem Druck der Erfolgskontrolle leiden. Die Auseinandersetzung mit Bildung verschwindet aus öffentlichen Diskussionen und wird durch eine Obsession mit Ergebnissen ersetzt.

Daniel Seitz: Das Thema Exklusivität ist in der Tat ein Problem bei alternativen Schulformaten. Schnell werden sie, gerade in sozial schwächeren Familien, in einer Hippie- oder Esoterik-Ecke verortet. Oder eine Bezahlschranke verhindert die Möglichkeit, an diesen alternativen Schulformen teilzuhaben. Dabei gehört die ganze Breite der Bildung in die Mitte der Gesellschaft.

Stimmt, die Bedürfnisse werden heute überall diverser, der Alltag immer komplexer. Fordert dieser Alltag von Kindern zu viel, und trauen wir ihnen gleichzeitig zu wenig zu?

Daniel Seitz: Ich glaube, heute als Jugendlicher aufzuwachsen, ist eine riesige Herausforderung. Viele Jugendliche empfinden ob der ganzen Krisen, die uns derzeit umgeben, Zukunfts-, Schul- und Versagensängste. Und das ist alarmierend. Von Jugendlichen wird verlangt, dass sie mit all den negativen medialen Bildern unserer Tage umgehen sollen. Gleichzeitig hält man ihnen aber vor, was sie alles nicht können, dass die schulischen Leistungen beispielsweise nicht ausreichen. Das alles ist ziemlich verwirrend. Und deshalb braucht es auch Formate, mit deren Hilfe Schüler*innen ein Gefühl dafür entwickeln können, wer sie sind – und nicht, wem sie entsprechen sollten.

Silvia Fehrmann: Genau. Wenn wir uns wünschen, dass Schule zur Demokratie befähigt, dann kann es nicht mehr nur darum gehen, zukünftige Arbeitnehmer*innen auszubilden, die sich konformistisch und affirmativ verhalten. Dann muss man vor allem zur kritischen Nachfrage ermutigen und auch mal zum Stören der Ordnung. John Deweys wichtigste Erkenntnis: Demokratie wird nicht gepredigt, sondern gemeinsam hergestellt, und da braucht die Schule die Gesellschaft. Und viceversa.