Frau Gilligan, mit „The Patch“ aus Ihrer Videoarbeit The Common Sense können Menschen Gefühle und körperliche Empfindungen von anderen erleben. Im Verlauf der Videoserie entstehen durch das Patch eigene neuronale Prozesse. Bezieht sich das auf konkrete Gegenstände in unserem Leben? Oder handelt es sich dabei mehr um einen MacGuffin, einen Platzhalter für etwas, das wir nicht richtig erfassen können?

Einerseits ist es ein Gerät, andererseits schaue ich damit auf Beziehungen zwischen den Menschen – sie sind vielfältig und ergeben Netzwerke. Es gibt klare Bedingungen, ökonomischen Druck und Hierarchien, aber nichts davon lässt sich auf ein eindeutiges Objekt zurückführen. Menschen, die das Patch benützen, befinden sich in einem Netzwerk aus Verbindungen.

Wie betrifft Technologie Sie in Ihrem eigenen Leben? Zum Beispiel, wenn es um das Lesen geht?

Es fällt mir nicht leicht, alles auf dem Computer zu lesen, selbst PDFs sind schwierig. Ich schätze Bücher –nicht, weil mir per se an Gegenständen gelegen wäre. Die Aufmerksamkeitsspannen verändern sich in vielerlei Hinsicht, einerseits nimmt die akademische Professionalisierung zu, auf der anderen Seite steht eine Mediensphäre, die alles verdichtet und Artikel immer kürzer werden lässt. Beide Phänomene verändern die Aufgabe des Schreibens grundlegend, wenn es nicht nur algorithmisch generiert wird.

Sie meinen Texte, die durch automatisches Ergänzen entstehen, wie im Google-Interface?

Viele Zeitungen werden heute so gemacht, oder wirken zumindest so. Diese Transformationen haben auch körperliche Auswirkungen. Die Kapazitäten der Menschen verändern sich, was auf längere Sicht die Menschen selbst deutlich verändern könnte, z. B. die Nerven des Gehirns. Es wird schwierig werden, diese Veränderungen rückgängig zu machen.

Beschäftigen Sie sich mit Neurowissenschaften, um das besser zu verstehen?

Es gibt einen Aspekt am Gehirn, über den ich besonders gern mehr wüsste: seine neuroplastischen Veränderungen und seine ständigen Rückkopplungen mit der Umwelt. Ich bin keineswegs eine Expertin, bin aber sehr inspiriert von Neurowissenschaftler*innen wie Antonio Damasio, der sich viel mit dem Feedback zwischen Gehirn, Körper und Emotionen beschäftigt hat. Das Patch in meiner Videoarbeit ist zugleich physisch und mental, deshalb haben die Leute auch körperliche Reaktionen, wenn sie es benützen.

Nehmen wir das Smartphone, das nun das alltäglichste Ding für fast alle von uns geworden ist. Wie gehen Sie damit um? Auch künstlerisch?

Das Smartphone spielte eine große Rolle, als ich The Common Sense gemacht habe. Es gibt nichts, an dem sich unsere veränderte Beziehung zur Arbeit paradigmatischer ablesen ließe. Man spricht gar nicht so viel darüber. Leute übernehmen Technologien einfach, und ständig wird dabei die Latte ein wenig höher gelegt. Wir sollen immer mehr arbeiten und zunehmend wird erwartet, dass wir jederzeit für diese Arbeit verfügbar sein sollen. Diese Veränderungen akkumulieren sich, und beschleunigen Beziehungen. So entsteht eine soziale Norm. Ich finde das faszinierend.

Allerdings sehen wir inzwischen doch recht klar, wer hinter diesen Dingen steht. Es sind ja eigentlich drei, vier digitale Konglomerate.

Ja, ist das nicht seltsam? Wir sind wieder im Zeitalter des Monopolkapitalismus. Das muss wirklich thematisiert werden.

Hat das dezentrale Internet heute noch befreiendes Potential?

Das Internet als Rahmen für befreiende Technologien hat schon mehrere Phasen der Desillusionierung erlebt. Warum enttäuschen Technologien immer wieder unsere Hoffnungen auf politische Veränderung? Habe ich selbst noch Hoffnung? Es ist schwer, das zu beantworten. The Common Sense greift den Übergang von einem Fernsehmodell, also der Ausstrahlung eines Signals in eine Richtung, zu dem heutigen Netzwerkmodell auf. Ich wollte damit das Potential in der Beziehung zwischen Technologien und sozialer Veränderung aufdecken – mich interessiert die Beziehung von Menschen zu ihren Geräten. Geräte sind nicht neutral, aber werden sie uns ihr Potential für immer vorenthalten?

Sind Narrationen für Sie auch so etwas wie Geräte, vielleicht gar politische Instrumente im Dienst von Veränderung?

Mich haben immer Denker*innen inspiriert, die Technologie aus einer anthropologischen Perspektive sehen, wie der Technikphilosoph Bernard Stiegler: Er denkt viel über Sprache als Instrument nach, und auf eine ähnliche Weise sind Geschichten ein Instrument für mich. Zeitbasierte Arbeiten sind dabei relevant für mich, aber auch diskursive Arbeiten – so habe ich mit einem befreundeten Filmemacher, Matthew Houston, angefangen, Drehbücher für Spielfilme zu schreiben.

Sprechen Sie von Spielfilmen in einem filmindustriellen Zusammenhang? Das fügt den installativen Arbeiten eine sehr interessante Dimension hinzu.

Natürlich auf meine Weise! Schon in meinen früheren Arbeiten Crisis in the Credit System und Popular Unrest gibt es Enden und narrative Bögen. Mit The Common Sense wollte ich bestimmte narrative Konventionen sprengen. Es ist eine nonlineare Narration in verzweigten Strukturen und zwei unterschiedliche Richtungen, die beide abgeschlossen werden, aber nicht enden. Es geht über den Zeitraum des Anschauens hinaus. Mir ist klar geworden: Das TV-Format einer Episode erlaubt es – auch in den visuellen Künsten, wo sie in der Installation räumlich wird –, auf unterschiedliche Möglichkeiten von Geschichten abzuzielen.

Gibt es eine Fernsehserie, die Sie besonders mögen?

Bei meiner ersten episodische Narration, die inzwischen eine Weile zurückliegt, hat mich The Wire sehr inspiriert.

Eine Geschichte aus und über Baltimore, von der man oft sagt, sie wäre „systemisch“.

Ein wirtschaftlicher oder sozialer Zusammenhang wie eine große Stadt erfordert einen Typus Story, der sich nicht nur auf emotionale, persönliche Geschichten beschränkt. Zuletzt habe ich Better Call Saul geschaut. Da gibt es solche Szenen: Eine Totale, die genau beobachtet, was sich in einem Einwanderungszentrum an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ereignet, wo alles, was an Autos und Gütern durchkommt, durchsucht wird. Es springt von den Charakteren zum größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Das ist großartiges Fernsehen.

Man könnte sich eine Serie über das iPhone ausmalen, die wie The Wire funktionieren würde. Es wäre eine wahrlich globale Geschichte. Aber auch konventionell.

Ganz genau. Viele Künstler*innen haben solche Dokumentationen gemacht. Als ich Popular Unrest gemacht habe, wollte ich keinen Film über die Produktionsverhältnisse oder den kapitalistischen Warenkreislauf drehen. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die einen umfassenden Blick erlaubt auf die Formen, die das Kapital nach der Krise annehmen kann.

Wenn wir das iPhone als ein Gehirn sehen wollen, braucht es seine eigene Neurowissenschaft.

Was wir über Geräte gesagt haben, wird hier wieder wichtig. Wenn wir Teile dessen, was sich sozial verändert, entsperren wollen, sollten wir eine Diskussion anstreben, die auf die Synthese der vielen Fragmente des großen Ganzen zielt, statt einfach der Produktions- oder Distributionskette zu folgen. Das wäre zu nah dran am System.