Sie beziehen sich mit dem Ausstellungstitel The Most Dangerous Game auf einen gleichnamigen Film, den der Situationisten-Mitbegründer Guy Debord sehr geschätzt hat. Es handelt sich um ein B-Movie aus den 1930er Jahren, das in einer billigen Pappmaché-Dschungelkulisse spielt, die tagsüber für einen King-Kong-Film genutzt wurde. Der Film war für Debord ein wunderbares Beispiel, um die ästhetischen Standards des Bildungsbürgertums zu attackieren.
Roberto Ohrt: Nicht nur das. Es ging auch darum, den etablierten Formen der Kritik etwas entgegenzusetzen. Guy Debord entwirft ja bereits in der Zeit um 1952/53 die wesentlichen ästhetischen Merkmale, mit denen er dann später die Situationistische Internationale speisen wird. Unter anderem wird da mit Pin-up-Fotos und B-Movies hantiert, aber auch mit dem Vermischen von präzis argumentierender Kritik und proletarischen Faszinationselementen.
Wolfgang Scheppe: Guy Debord erkannte als 20-Jähriger am Beispiel Isidore Isous, wie man sich mit einer aus dem Nichts erklärten Avantgarde Gehör dabei verschaffen konnte, sich mit dem Großen und Ganzen der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Sie schien ein verlockender Weg, sich selbst – abseits vom Umstand einer konventionellen, bürgerlichen Karriere in Politik oder Wissenschaft – an der Geschichte zu schaffen zu machen. Dass Debord sich selbst sehr früh als Akteur vor historischem Hintergrund wahrnahm, sieht man ja spätestens an seinem Entwurf der Bibliothèque situationniste de Silkeborg, in der sogar eine Art der Selbstmusealisierung mitgedacht ist. Debords Maßstab war es immer, die Möglichkeiten seiner Epoche als Moment der eigenen Biografie zum Ausdruck zu bringen, und tatsächlich betrachtete er wohl am Ende seines Lebens dieses unter dem Aspekt der Werkform, also als das einzige Kunstwerk, das er hervorzubringen gedachte. Er realisierte darin die alte Grundidee, die Kunst als Spiel des Lebens zu verwirklichen.
Einerseits ist man bei den Situationisten ja gegen diese Art von Geniekult. Andererseits haben sie das eigene Leben immer auch als Kunst inszeniert.
Wolfgang Scheppe: Im Kabinett der letzten Bilder, das unsere Ausstellung bereithält, zeigen wir zum ersten Mal die Methode der kollektiven Malerei als eigene und für die Situationisten typische Kategorie in ihrer Praxis der bildenden Kunst. Mit der gemeinsamen Performance des kollaborativen Malens wiesen sie einerseits das sentimentale Ideal zurück, das sich das Bürgertum seit der Romantik vom individuellen Genie eines singulären Autors machte, und verweigerten andererseits zugleich das dingliche Werk als Resultat des künstlerischen Akts. Er selbst, sein Vollzug, war der Zweck, nicht sein Produkt, das als Ware dem Kunstmarkt zu Willen wäre. In seiner weiteren Konsequenz führte diese Zurückweisung aber notwendig zur Trennung von den Künstlern fünf Jahre nach der Konstitution der Situationisten im Jahr 1962. In ihr machten sie sich selbst demonstrativ zur „letzten Avantgarde“ und wandten sich hinfort nur noch der politischen Aktion zu. Dieser Übergang lässt sich genau nachvollziehen in der Chronologie der Bibliothèque situationniste de Silkeborg. Erstmals kann man hier das rekonstruierte Konzept von Guy Debord und Asger Jorn zur Kenntnis nehmen, in dem sich nicht allein das eigene Schrifttum der Organisation der Situationisten selbst findet, sondern auch Einblick in alle Quellen der europäischen Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts gewährt wird, aus denen Mitglieder zu ihnen gestoßen sind. Deshalb konnte Debord diese Anlage seines Archivs als den „Urmeter der Avantgarde“ bezeichnen.
Lebendig war diese Bewegung unter anderem auch, weil sie das revolutionäre Potenzial der Jugend so ernst nahm. Können Sie zu dieser Grundidee etwas sagen?
Wolfgang Scheppe: Lange vor der Gründung der Situationistischen Internationale, schon im Jahr 1946, war Isidore Isou, der Begründer des Lettrismus, die treibende Kraft einer Idee der Jugendbewegung als eigentlichem revolutionärem Subjekt. Mit seinem Aufruf zum „Aufstand der Jugend“ hat er die Jugend erstmals nicht biologisch, wie etwa im deutschen oder italienischen Faschismus, sondern ökonomisch als eine Klasse gedacht, die nicht an der Reichtumsproduktion partizipierte. Seine Vorstellung, die Jugend zu befreien, bestand allerdings nur im höchst affirmativen Vorschlag, Jugendlichen staatliche Mikrokredite zur Verfügung zu stellen, sie zu Unternehmern zu machen und ihr Talent unmittelbar in den Dienst der nationalen Wirtschaftsleistung zu stellen. Tatsächlich lag er mit seinen von den Situationisten sehr genau kritisierten Überlegungen ja auch im Trend der Zeit. Damals geriet die vordem übersehene, aber wesentliche junge Käuferschicht in den Fokus der Warengesellschaft. Ihre Bewirtschaftung verschaffte der Ware als Ganzes eine völlig neue Ideologie ihrer Vermarktung.
Trotzdem ging es den Situationisten dann doch in erster Linie um eine ästhetische Haltung, die erst später politisiert wurde, oder?
Roberto Ohrt: Nein, es war von Anfang an revolutionäre Kritik, allerdings in den ersten Jahren noch stark von der Hoffnung erfüllt, das Erbe der Avantgarde und die Möglichkeiten der Künstler für eine moderne radikale Fiktion auf eine neue Ebene zu heben. Die zentrale Rolle der Medien hat Debord ja vom Surrealismus geerbt, der seine Zeitschrift als Sendung aus dem Reich der Träume inszenierte. Ähnlich scheint das Magazin der S.I. aus dem Gebiet einer breiten ungreifbaren revolutionären Bewegung zu kommen.
Wolfgang Scheppe: Andererseits gab es bei den Situationisten eben auch die von Hegel ausgesprochene Überzeugung vom Ende der Kunst. Dass die Aufhebung der Kunst ins Leben ihre einzig verbliebene Denkmöglichkeit sei, gab den Situationisten die politische Richtung vor: eine revolutionäre Front im Feld der Kultur zu errichten. Natürlich erwies sich das als widersprüchliches Vorhaben. Es bewegte die Situationisten fast bis zu ihrem Ende und verlieh ihnen das charakteristische Formbewusstsein, das alle ihre Äußerungen so diszipliniert begleitete. An ihm zeichnet sich auch die Auflösung des Paradoxes ab: Die Überwindung der Kunst in die Tat war bei ihnen selbst als Kunstwerk gedacht. In absoluter Radikalität bedeutet das, dass auch der Revolte von 1968 aus ihrer Sicht eigentlich Werkcharakter zukommt.
1968 haben unter anderem die Aktionen der S.I. zur Revolte in Universitäten, Fabriken und auf der Straße geführt. Heute agitiert die Rechte und destabilisiert mit teilweise linken Strategien Staat und Gesellschaft. Welche Rolle könnte in so einem Klima eine den Situationisten vergleichbare Bewegung spielen?
Roberto Ohrt: Man kann die Situation von damals kaum mit heute vergleichen. Allein die Tatsache, dass Demonstranten damals Universitätsbüros an der Sorbonne besetzten, ohne dass die Polizei sofort eingriff. Dass das Ganze in Windeseile in Nantes bekannt wurde, wo sich eine Solidaritätsbewegung bildete und die Arbeiter des Sud Aviation dazu brachte, ihre Fabrik zu besetzen. Derart ausufernde Streiks, das Einnehmen von Fabriken, das Festsetzen eines gesamten Managements, so etwas würde heute militärisch härter bekämpft und medial vollkommen kriminalisiert werden.
Wolfgang Scheppe: Aktuell stellt sich die Situation anders dar: Es ist ja derzeit nicht einfach so, dass der Staat von aufständischen Faschisten in Haft genommen würde. Als radikale Untertanen und Nationalisten schritten sie nicht zur Tat, die vom Gefühl getragen ist, das Land vor seinem Untergang bewahren zu müssen, hätten sie nicht Zustimmung zur Kritik von dessen Zustand von oben erfahren. Gäbe es in Deutschland nicht auch am System der Herrschaft beteiligte – durchaus bürgerliche – Politiker, die dem rechten Übergang zur Selbstjustiz das Material, die Rechtfertigung, ja sogar den Konsens eines vermeintlichen nationalen Notstandes lieferten, sähe sich der wachsende rechte Wille von unten nicht aufgerufen, seine Anliegen selbst in die Hand zu nehmen.
Was macht die Auseinandersetzung mit den Situationisten dennoch aus heutiger Perspektive für Sie spannend?
Wolfgang Scheppe: Es ist dies das erste Projekt zum Thema der Geschichte der Situationistischen Internationale, die sie nicht leichtfertig und grundlos unter den Aspekt des Ästhetischen subsumiert und nur als Phänomen der Wahrnehmung von Kunst ausgibt. So geschah das bislang in allen ihr gewidmeten großen Ausstellungen. Hingegen nehmen wir die Trennung von der künstlerischen Praxis und den politischen Zweck so ernst, wie er von den Situationisten gedacht war. Pointiert könnte man sagen, wir betrachten sie nicht vom Standpunkt der Kunstgeschichte, sondern von dem der Revolution, weil er der ihre war. Die Situationisten haben so ziemlich alles getan, um sich dem normalen Ausstellungsbetrieb zu verweigern. Und auch wir wollen nicht einfach Bilder ausstellen, ohne gleichzeitig so vor ihnen zu warnen, wie das die Situationisten 1961 selbst beschlossen hatten.
Roberto Ohrt: Besonders überraschend und fruchtbar war die Untersuchung der Rolle, die der sexuellen Befreiung und pornografischen Bildern zukam. Bis 1969 hatte das Thema eine heute kaum noch vorstellbare Sprengkraft. Man musste Sex nur ansprechen und schon waren die Charaktermasken von Staat und Kapital verunsichert. Mittlerweile ist dieser Stoff – genau wie die Jugend – zur Triebkraft des Konsums und kapitalistischer Herrschaft geworden. Diese Sexualisierung der Macht konnte sich 1967 offenbar niemand vorstellen.