Die knappste Form, um das 20. Jahrhundert zu repräsentieren, besteht in der römischen Zahl XX. Bernd Scherer, der Intendant des HKW, leiht sich dieses Bild vom Schriftsteller Marcel Beyer. Und denkt es weiter: das X ist im Zeitalter der Schreibmaschine ja auch verwendet worden, um Textpassagen unkenntlich zu machen, zu überschreiben, auszuradieren. Freilich: verschwunden ist das Darunterliegende damit nicht. Es weckt im Gegenteil die Neugier, es zu entschlüsseln.
Mit der Projektreihe 100 Jahre Gegenwart unternimmt das HKW genau diesen Versuch: im Kontext des Ersten Weltkrieges Überblendetes wieder sichtbar, lesbar zu machen, und zwar für die Gegenwart und Zukunft. Das englische Wort für Röntgen lautet X-raying. Tatsächlich ist es ein Röntgenblick, der hier auf die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 geworfen wird, und das anno 2015, wo das Bohei der Gedenkfeiern zum „100. Jubiläum“ längst verklungen ist und wir an breiter Front wieder den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit beobachten können.
Dagegen wendet sich dieses auf vier Jahre angelegte Projekt, Scherer hat es in seiner Eröffnungsrede betont: „Um die Umbruchprozesse der heutigen Zeit zu verstehen, sollte man die Blicksstarre lösen und sich nicht von der Zwangslogik des Augenblicks leiten lassen“. Schließlich erleben wir gerade wieder grundlegende Transformationsprozesse der Gesellschaft. Ordnungssysteme, die kollabieren. Kategorien, die nicht mehr greifen.
Die Zeit ist dabei ein Schlüssel zum Verständnis, einer von mehreren. Schon weil – auch das führt Scherer aus – die Geschichte unseres Zeitbegriffs eng verwoben ist mit militärischen Strategien, wie sie im Ersten Weltkrieg erstmals erprobt wurden. Wo das vormalige Damen-Accessoir Armbanduhr seinen Weg unter die Uniformärmel fand. Wo aus der Zeit ein Zeitregime wurde, das sich Transportwesen und Arbeit Untertan machte. Wo sich die beschleunigten Rhythmen der Produktion in die Körper der Arbeiter einschrieben und dem kapitalistischen Dogma der Weg geebnet wurde: Zeit ist Geld.
In einem Vortrag, den der Historiker Jörn Leonhard im Kontext von 100 Jahre Gegenwart anlässlich der Lesung Tatort: Schlachtfeld hält, zitiert er die Tagebücher von Harry Graf Kessler, der am 22. August 1914 aus dem Gefecht notiert: „Die Feuerleitung, ein Hauptmann und ein Oberleutnant, saßen neben uns in Deckung wie in einem Büro, gaben durchs Telefon dem zwei Kilometer entfernten Geschütz Befehle und Zahlen an, genau so wie ein Bankier Orders für Kauf und Verkauf an die Börse telefoniert, eine ganz methodische Bürotätigkeit, eine Geschäftstätigkeit“. Vorboten von Automatisierung und Entfremdung eines Kampfgeschehens, die heute, im Zeitalter der Drohnenangriffe, zum Standard geworden sind.
Das Zusammenspiel von Wissenschaft, Technologie und Krieg, das im Ersten Weltkrieg in bisher nicht gekannter Form anhob, führt auf geradem Weg in die digitale Gegenwart mit ihrem „Megatrend Algorithmus“ (Scherer). Die wähnt sich weiter entfernt denn je vom heroischen Hurra, wie es aus Georg Heyms Wunsch nach Krieg von 1910 schallt, vorgetragen vom Schauspieler Burghart Klaußner bei der gemeinsamen Lesung mit Ulrich Matthes: „Würden einmal wieder Barrikaden gebaut! Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit einer Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren!“.
Nichtsdestotrotz unternimmt das Berliner Solistenensemble zeitkratzer den zwischen Ernst und Ironie oszillierenden Versuch, mit dem Konzert Vaterländische Ouvertüre (Rekonstruktion) ähnlich mobil zu machen, ein heutiges Publikum in Marschbereitschaft zu versetzen – mit Agitationsmusik, wie sie ab 1914 in den Konzerthäusern der Hauptstadt Einzug hielt. Lustvoller Kriegsklang überall, auch in der Berliner Philharmonie. „Wir wollen nicht vorführen, wie dumm die Menschen 1914 waren, sie waren ja auch nicht dumm“, betont dazu Reinhold Friedl von zeitkratzer.
Eher schafft das Konzert ein beklemmendes Grundrauschen – weil die Sehnsucht nach Selbsterlebnis und Sinnzusammenhang gar nicht mehr so fern erscheint, wo der offene Krieg einem dauerhaften latenten Kriegszustand gewichen ist. Als Nachhall dessen, was Historiker Leonhard als Entkoppelung des zyklischen Zeitverständnisses von Erfahrung und Erwartung im Ersten Weltkrieg beschreibt: „Niemals sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden. Die militärischen durch den Stellungskrieg. Die wirtschaftlichen durch die Inflation. Die körperlichen durch den Hunger. Die sittlichen durch die Machthaber“.
Ohne den Blick für die Brüche, Kontinuitäten und Ellipsen der Vergangenheit sind auch die Krisen und Konflikte der Gegenwart nicht lesbar. Hier Dechiffrierungsarbeit zu leisten, zu verlinken und Dialoge über Epochen zu befördern, ist natürlich auch für die Kunst ein Reiz.
Was das Kollektiv Slavs and Tatars – eine Gruppe mit Fokus auf die Gegend „östlich der Berliner Mauer und westlich der chinesischen Mauer“, sprich Eurasien – mit der Lecture Performance „I Utter Other“ beweist. Das Kollektiv schaut auf die Krim mit der Frage, ob es einen russischen Orientalismus gibt. Beleuchtet, wie die Krim schon zu Zeiten Katharinas der Großen als koloniales Territorium markiert wurde – und wie man zugleich Anschluss an die westliche Hochkultur suchte. Auch da fallen Vergangenheit und Gegenwart in schillerndster Widersprüchlichkeit ineinander.
Die Durchdringung der historischen Sedimente und Zeichenschichten müsse, sagt Bernd Scherer, an den Rändern ansetzen. An den gesellschaftlichen, wo heute Geflüchtete neue Entwicklungen in Gang setzen. An denen des X, wo nicht Wissenschaftsskepsis oder Technophobie warten, sondern „ein neuer Zeithorizont aufscheint, der es gestattet, Geschichte als Möglichkeitsraum zu verstehen“.