In dem aktuellen Debakel rund um die sogenannte Flüchtlingskrise kurz eine andere Frage: Was ist eigentlich mit jenen, die eben nicht kommen? Die nicht an den Außengrenzen oder in den Turnhallen Europas warten, trotz oder gerade wegen der Krisen vor Ort?
Ein erneuter Sprung ins westafrikanische Guinea-Bissau: Mitten in der laufenden Staatskrise, die aktuell seit August 2015 andauert, ist das einzige, das in diesem Land noch irgendwie funktioniert, die zivile Gesellschaft: NGOs, Vereine, Gewerkschaften, temporäre Kollektive und Bewegungen, Einzelne. Nicht nur, weil sie laut werden, sondern weil sie trotz der regelmäßigen Regierungspausen und -aussetzer den Alltag gestalten und bei näherem Hinsehen einige Staatsgeschäfte in die eigene Hand genommen haben.
Rechtsfragen, ebenso wie der Zugang zu Bildung und Gesundheitssystem werden mit, aber vor allem jenseits der Regierungsebene diskutiert und organisiert, ebenso wie Nahrungsmittelsicherheit und Umweltschutz, das Miteinander der verschiedenen ethnischen Fraktionen und Religionen, mit den Militärs, nicht zuletzt mit den internationalen Geldgebern. Offizielle und inoffizielle Treffen geben sich die Hand mit Verlautbarungen und Aktionen. Weil sie sich nicht mehr arrangieren wollen – weder mit der „Fassadendemokratie“ noch mit dem „Ministerkarussell der Elite“, die das Land ständig weiter ausbluten lassen.
„Ich habe den Traum, dass sich etwas verändert. Das treibt mich an, täglich 12 bis 14 Stunden zu arbeiten, mit meinem Mikrofon und meiner Kamera dieses Land zu zeigen, zu erzählen. Es ist möglich, dieses Land zu verändern. Wenn jeder mit anpackt, jeder an seiner Stelle, mit seinen jeweiligen Fähigkeiten.“ – „Du musst begreifen, dass man sich aktiv beteiligen kann und dazu beitragen kann, die Dinge zu verändern, dass diese Veränderungen immer auch einen selbst betreffen.” – Und: „Es geht um Inklusion, Partizipation – von allen.“ Kurz: „Wir sind der Staat.“
Zurück nach Berlin: Auch hier geht es um die Frage, wie man wirksam Politik machen kann. Addiert wird hier noch das „wer“. Entsprechend ist der Kongress Zivilgesellschaft 4.0 – Geflüchtete und digitale Selbstorganisation, den das HKW im März des Jahres 2016 veranstaltet, eine Versammlung der Vielen, jenseits von nationaler Zugehörigkeit und politischem Status.
Was die Vielen sagen, die sich hier mit und ohne akademische oder politische Aufenthaltstitel treffen, klingt sehr ähnlich: Steht auf und engagiert euch. Miteinander. Jede*r mit den eigenen Kompetenzen, als Ergänzung für andere, jenseits eurer nationalen Herkunft. Schaut, was ihr wo tun könnt und auf welcher Grundlage. Und tauscht euch aus, wie und gegebenenfalls mit wem das am besten zu bewerkstelligen ist.
Refugee Emancipation, United Action, Women in Exile, Refugee Empowerment, The Voice – um nur einige der Gruppierungen zu nennen – setzen dies seit Jahren in die Tat um: aus eigener Initiative, als Alternative und Ergänzung des staatlichen Handelns in den hiesigen Breitengraden. Sie mischen sich ein: produzieren Radiosendungen, organisieren Internetzugang ebenso wie Demonstrationen, publizieren Bücher und halten Reden, machen auf Lücken und Fehler im System aufmerksam und regeln sie, soweit wie möglich, selbstorganisiert. Das geht kaum ohne Widerstand und Sanktionen, meist staatliche, aber es geht. Auch ohne Pass und geregelten Aufenthaltsstatus.
Politisches Handeln ist möglich und voneinander zu lernen ebenfalls. Entsprechend leitet Bino Byansi Byakuleka von Refugee Empowerment im Rahmen des Kongresses einen Workshop eben dazu an: Empowerment. Die Kollegin von Women in Exile spricht zum Thema Emanzipation aus ihrer Biografie. Andere leiten zur Nutzung von Freifunk-Netzwerk und Meta-Suchmaschinen an oder diskutieren die Verbesserung der digitalen Vernetzung. Ein Stückchen weiter sitzt eine Handvoll Hacker*innen um Anke Domscheit-Berg vom Refugee Hackathon und programmiert an Sprachlernplattformen und anderem.
Menschen als Akteur*innen zu begreifen oder sie daran zu erinnern, dass sie es sind – die Idee der Zivilgesellschaft 4.0 beschreibt eine Wende zum Handeln: trotz des jeweiligen Status und des Staates. Im besten Fall miteinander. Die Suche nach Bewegungs- und Schutzräumen oder deren Schaffung. Handgemacht, oft im Handgemenge. Demokratie ist Konflikt, so der Politikwissenschaftler Ralf Dahrendorf. Hier wird Demokratie zum Möglichkeitsraum, die Teilnehmenden wählen sich selbst.
So weit weg von Guinea-Bissau ist das nicht. Der Ausgang ist hier wie dort offen. Fest steht nur die Aufforderung zu handeln. Nicht als „Empört euch!“, sondern als „Engagiert euch.“
Das Gedankenexperiment dahinter ist eigentlich ganz einfach: Was passiert, wenn man „zivil“ nicht als „bürgerlich“ und in Abgrenzung zum Staat versteht. Wenn Zivilist*innen all jene sind, die im Rahmen einer frei zugänglichen Öffentlichkeit gemeinsam Politik machen, auf der Straße, in den Institutionen, den Medien. Wenn wir der Staat sind. Als Ergänzung zu den offiziell Regierenden, als deren Korrektur und Impulsgeber*innen oder auch als Alternative dazu? Jenseits nationaler Herkunft, auf Grundlage der Conditio Humana. Wir sind der Staat.
Das klingt so, als hätte man das irgendwo schon mal gehört. Vielleicht birgt die Zivilgesellschaft 4.0 im Sinne eines zivilen Miteinanders, jenseits von nationalen und Statusgrenzen aber auch genau das: ein Zurück in die Zukunft.
Und ein konsequentes Fremdeln mit der Welt, wie wir sie kennen. Um die Konditionen neu verhandeln zu können – auch die des „Wir“.