In Paris Calligrammes (2019), Ulrike Ottingers jüngstem Film, erleben wir ein ganz neues Kapitel ihrer ethnografischen Expeditionen. Diesmal ist es eine Zeitreise, die uns ins Paris der 1960er Jahre führt. Die Utopie-Forschung unterscheidet zwischen Raum- und Zeitutopien. Der Film ist beides; er ist eine Raum-Utopie, aber nicht ans Ende der Welt oder in ein unbekanntes Land, sondern mitten ins Herz der Metropole Paris. Und er ist auch eine Zeit-Utopie, doch liegt diese Zeit nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Er ist eine autobiografische Reise zurück in die eigene Jugend, in die für Künstlerinnen und Künstler so bedeutende Zeit des Coming of Age.

Der Film, in dem Ulrike Ottinger diese prägende Phase ihres Lebens aufgehoben hat, schlägt eine Brücke zwischen dem Einst und dem Jetzt. Die Bilder überlagern sich, gehen zum Teil fließend ineinander über. Am deutlichsten wird das sichtbar, wenn die Künstlerin das Schaufenster der ehemaligen Librairie Calligramme im Stadtteil Saint-Germain-des-Prés für eine eigene Ausstellung zurückerobert. Für einen Moment wird die Auslage leergeräumt und mit ihren eigenen Büchern gefüllt, dem Schatz, den sie dort einst erworben und über die Zeiten gerettet hat. Genauso wie das Schaufenster ist der ganze Film gefüllt mit Eindrücken, Erlebnissen und Erinnerungen. Dabei ist die Zeit vor 50 Jahren, die vergangene Gegenwart, die er wiederaufleben lässt, gleichermaßen offen gegenüber dem Gewicht traumatischer Vergangenheiten wie gegenüber dem Sog einer experimentierfreudigen und lebensfrohen Zukunft.

Portrait of the Artist as a Young Woman

Ulrike Ottinger hat die formative Phase ihrer Jugend im freiwilligen französischen Exil verbracht. Die 20-Jährige wollte ihrer provinziellen Heimat entkommen und lernte, dass auch die Großstadt Paris ein Dorf ist, in dem es überschaubare Reviere, enge Kreise, gemeinsame Cafés und zuverlässige Wiederbegegnungen gibt. Was sie hier in einem knappen Jahrzehnt lernte, reichte aus für ein ganzes Lebenswerk. Deshalb ist der Film auch eine Werkbiografie von Ulrike Ottinger. Er zeichnet nicht nur Eindrücke und Impulse nach, sondern auch die Entwicklung der eigenen Arbeiten –  von den frühen ornamentalen Radierungen in der international zusammengewürfelten Meisterklasse Johnny Friedländers über die kreative Explosion in der Pop-Art mit ihren erzählenden Bildern und plakativen Farben, samt den Kunstobjekten und Happenings, bis hin zu ihren Filmen, in denen künstlerische Vorbilder aus der Frühgeschichte des Films und Theater-Aufführungen ebenso verarbeitet wurden wie orientalisierende Gemälde, die Bilder Goyas oder Gewaltszenen auf den Straßen von Paris.

Wann war Europa?

Das Paris, in dem die Künstlerin zunächst ankam und lebte, war das Paris der jüdischen und politischen Immigrant*innen, die dem politischen Terror entronnen waren und hier die zerstörte deutsche Literatur von der Klassik bis zur Moderne aus Fundstücken von Dachböden und Antiquariaten noch einmal liebevoll zusammenfügten. In diesem Schutzraum des Exils stand die Zeit still, hier lebte das Verlorene noch einmal auf – und wir müssen hinzufügen: kurz vor dem endgültigen Verschwinden – verkörpert in ehrwürdigen Sammler*innen und Buchhändler*innen, Bibliophilen und Exzentriker*innen, Leser*innen und Dichter*innen, Seher*innen und Philosoph*innen. Die informellen Versammlungsorte dieser Subkultur waren Buchhandlungen, Salons und Cafés, hier wurde geblättert und gelesen, hier führte man in vier bis fünf Sprachen endlose Gespräche.

Der Film zeichnet ein Gruppenporträt dieser Generation der Entronnenen, die zwei Weltkriege und den Holocaust überlebt haben. Ein Höhepunkt ist das ergreifende Requiem von Walter Mehring, in dem er in der Silvesternacht 1940/41 in Marseille die Namen der toten Künstler seiner Generation aufruft und dabei alle noch einmal um sich versammelt.

Einbrüche der Gewalt

In der schöpferischen Zeit ihres Exils hat Ulrike Ottinger mehrfach plötzliche Ausbrüche einer Gewalt erlebt, die unter der glatten Oberfläche des eleganten und pulsierenden Pariser Lebens lauerte. Sie erlebte, wie die Versammlung einer Gruppe von algerischen Demonstrant*innen im Rahmen des Algerienkrieges 1962 von Schlägertrupps der Polizei mit ungebremster Brutalität niedergeschlagen wurde: Gewalttaten, die Hunderte von Menschen das Leben kosteten und die nie vor Gericht gebracht wurden. Das Klima in der Stadt war so erhitzt, dass auch eine Publikumsdiskussion in Jean-Louis Barraults Theater in einer Orgie der Gewalt endete. Auch die Mai-Demonstrationen im Jahr 1968 zeigten bald ihre zerstörerische Seite.

Als Gegenbilder zur Gewalt auf der Straße erscheinen im Film kulturelle Orte des Sammelns und Pflegens, des Wertschätzens und Weitergebens wie der Louvre, die Nationalbibliothek oder die Cinémathèque. In dieser Konstellation zeigen sich diese Orte der Stille, der Reflexion, der Erinnerung und Kommunikation als zugleich grundsätzlich prekär und bedroht. Das hat die Künstlerin von ihren Exil-Freund*innen gelernt. Die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses können von sich aus der Macht der Zerstörung nichts entgegensetzen, sie bedürfen umgekehrt des Schutzes, der Würdigung und Achtung der Menschen.

Koloniales Erbe

Das Wort Kultur gibt es für Ulrike Ottinger nur im Plural. Man braucht viele, um die eigene Kultur vom Standpunkt einer anderen Kultur aus sehen zu können – das hat sie von dem Ethnologen Lévi-Strauss gelernt. Sie geht an die Orte der Stadt, die von der Kolonialgeschichte Frankreichs geprägt sind. Das Pariser Kolonialmuseum mit seiner prägnanten Architektur ist für die Künstlerin ein bemerkenswertes historisches Zitat aus einer vergangenen Zeit. Heute erzählt es eine ganz andere Geschichte, nämlich die einer fortgesetzten Einwanderung.

Das Gegenbild zu Rassismus und Fanatismus der ehemaligen Kolonialmacht ist im Film das multi-ethnische Paris mit seinem hohen Bevölkerungsanteil an Bürger*innen aus den ehemaligen Kolonien. Wie die Geschichte des Kolonialismus undramatisch ausläuft und zu Ende geht, zeigt die brillante Episode im Auktionshaus, wo das nationale koloniale Erbe unter den Hammer kommt und, aus seinem Kontext gefallen, als versprengtes Fragment von einzelnen Sammlerinnen und Liebhabern davongetragen wird. Hier wechselt dieses Erbe, das auf seiner letzten Stufe angekommen ist, die Besitzer*innen. Wenn es noch einen Marktwert hat, wird es verkauft oder zurückgekauft, während der Blick der Kamera an den Rolltreppen des großen Gebäudes hängenbleibt, die mit der Rotation ihrer unablässigen Bewegung auf die Zirkulation des Marktes und das Vergehen der Zeit verweisen.

Ulrike Ottingers Film bringt tatsächlich alles zusammen: Alter und Jugend, Schmerz und Ausgelassenheit, Schrecken und Komik. Neugier und Staunen sind der Motor dieses Films – wir haben mit offenen Augen und Sinnen teil an ihren Entdeckungen, an der Offenheit der Jugend, an der Frische des Blicks, an der erwartungsvollen Empfänglichkeit für alles, was der Künstlerin begegnet. Die Augen der Künstlerin sind immer im Einsatz, auch wenn sie sie hinter großen Sonnenbrillengläsern versteckt. All die Orte, und Erzählungen, Menschen, Bilder, Gedichte, Lieder und Töne haben in Ulrike Ottinger und in ihren Werken weitergewirkt. Nun hat sie sie uns in ihrer poetischen Filmerzählung weitergegeben.