Herr Annas, am 21. März 1960 tötete das südafrikanische Apartheid-Regime im Township Sharpeville 69 Demonstrant*innen, die gegen die Rassentrennung protestiert hatten. Danach wurde die Lage im Land zunehmend unerträglich, immer mehr Jazz- und auch andere Musiker*innen gingen ins Exil. Wie veränderte dieser Exodus die Jazzmusik Südafrikas?
Sharpeville war eine Zeitenwende. Die regierende National Party zeigte, dass sie entschlossen war, die Apartheid-Politik bis zum Äußersten zu verteidigen und durchzusetzen. In einer ersten Fluchtwelle verließen daraufhin erfolgreiche Musiker*innen wie Abdullah Ibrahim, Miriam Makeba, Kippie Moeketsi und Hugh Masekela das Land, über die Jahre folgten unaufhörlich weitere. Jüngere Menschen, die einen erkennbar zeitgenössischeren Jazz spielten, füllten zunächst die Lücken. Aber das Regime bremste die Entwicklung. Zwischen 1960 und 1970 erschienen weniger als 20 lokale Jazzalben – und das in einem Land, das über eine gut funktionierende Musikindustrie verfügte.
Welche Bedeutung hatte Jazz damals für die breiten Bevölkerungsschichten Südafrikas?
In den Townships, wo die Nicht-Weiße Bevölkerungsmehrheit lebte, war Jazz eines der beliebtesten Musikgenres. Daneben waren Kwela und Mbaqanga die prägenden Popmusiken. Beide wurzelten wiederum unterschiedlich stark in Jazz und verwandten Sounds. Kwela hatte einen eher am Swing orientierten Beat, Mbaqanga war dagegen – grob gesagt – afrikanischer und verwies auf Modelle aus der Kultur der Zulu.
Wie stand des Apartheid-Regime grundsätzlich zu Musikrichtungen wie Kwela, Mbaqanga oder Jazz?
Musik war generell nicht verboten. Jazz lief, wenn auch zeitlich streng reglementiert, im Radio. Allerdings war Jazz eben jene Musik, die dem Regime am verdächtigsten überhaupt erschien. Dem Soziologen David Coplan zufolge betrachteten die Herrschenden Jazz als „the devil’s own soundtrack“. Die Regierung propagierte mit ihren lokal ausgerichteten Sendern ethnisch reine Popmusik, und zwar nicht nur zwischen Schwarz und Weiß, sondern auch zwischen den verschiedenen Schwarzen Bevölkerungsgruppen.
Aber diese Trennung griff beim Jazz nicht?
Das war die Musik, bei der in Südafrika Schwarz, Weiß und Colored gemeinsam auf der Bühne standen. Jazz war dem Regime daher sehr verdächtig. Weiße Musiker*innen verfügten dabei über Freiheiten, die ihre Schwarzen Kolleg*innen nicht hatten: Sie waren materiell unabhängiger, besser geschützt vor Verfolgung, und sie hatten leichteren Zugang zu Produktionsmitteln. Aber die Kreativität war überwiegend schwarz. Die ethnische Zusammensetzung brachte natürlich Probleme mit sich. So konnte etwa die Band The Blue Notes, die vom Regime als „Mixed“ kategorisiert war, weder problemlos in sogenannten „black areas“ auftreten noch in jenen der Weißen. Das führte zu der kuriosen Situation, dass das Weiße Bandmitglied Chris McGregor nicht selten als „Colored“ auftrat, um mit den Schwarzen Musiker*innen spielen zu können.
Jazz war in Südafrika also eine politische Musik?
Alles an Jazz war hochpolitisch. Er war aufgeladen durch die Kämpfe der Communities in den USA und deren Bestreben, Jazz und Befreiung zu verknüpfen. Und spätestens seit der Etablierung des Begriffs „Free Jazz“ und der nicht nur ästhetischen Radikalisierung der Musik auf der anderen Seite des Atlantiks war die Toleranz der südafrikanischen Regierung am Ende. Max Roachs Album We Insist! –Freedom Now Suite von 1960 etwa verknüpfte die Befreiung in den USA mit jener in Südafrika. Das blieb den Zensor*innen ja nicht verborgen.
Wie stark haben solche Einflüsse von außen die Musik in Südafrika beeinflusst?
Seit den 1930er Jahren nutzten Südafrikaner*innen erst Swing und dann langsam auch Bebop als Muster, um eigene Sounds und Codes zu entwickeln. Schallplatten kamen immer über die Häfen ins Land, aber auch per Post. Die wurde allerdings kontrolliert, und Leute, die ihre Platten abholten, fanden manchmal einzelne Tracks von der Zensur verkratzt. Auch andere Stile, die in den 1980er Jahren in Südafrika wichtig wurden, etwa House und HipHop, kamen aus den USA.
Was machte Jazz in den 1980er Jahren?
Er war damals ziemlich am Ende. Die Protagonist*innen waren entweder exiliert, tot, zermürbt oder auf ihr kleines lokales Publikum fokussiert. Symbolisch wichtig war aber auf jeden Fall die Band Juluka, mit der der Weiße Johnny Clegg und der Schwarze Sipho Mchunu eine neue Art Kooperation gegen die Apartheid erfanden. Cleggs Selbstdarstellung als „White Zulu“ war ein wirkungsmächtiger Spott auf die offizielle Rassenpolitik.
Welche Bedeutung hatte Musik für den Kollaps der Apartheid 1994?
Das Ende der Apartheid war ein Vorgang, der von der Musik nur begleitet werden konnte. Die Verschiebungen in der Weltpolitik, die fast vollständige Zahlungsunfähigkeit des Landes, die Zermürbung durch den Kultur- und, auch ganz wichtig, Sportboykott, hatten die Strategie der Apartheid geschreddert. Und nicht zu vergessen: Der zivile und militärische Widerstand hatte das Regime zu immer brutaleren Terrormethoden getrieben – und immer weiter in die internationale Isolation.
Nach dem Ende der Apartheid kam es zu einer regelrechten Explosion von Kwaito, einer House-Variante mit Raps in lokalen Sprachen, deren Texte so offen politisch wurden wie wenig bis nichts vorher. Welche Bedeutung hatte diese Musik für die Identitätsfindung des Landes, das fortan eine „Rainbow Nation“ sein wollte?
Kwaito, heute weitgehend leblos, war damals enorm wichtig für die Musikkultur, weil sich ein nichtweißer Stil zum ersten Mal in der Geschichte auch verbal äußern konnte. So markierte vor allem Arthur Mafokates Song „Kaffir“ (das K-Wort entspricht dem amerikanischen N-Wort) einen radikalen Wandel – weg vom Symbolischen, hin zum Formulierten. Jazz war ja auch deshalb zeitweise so populär, weil er als Musik ohne Worte andere Codes nutzte als jene Genres, die über Worte funktionierten. Oft waren das Codes, die im weißen Mainstream nicht verstanden wurden.
Wie geht es Jazz in Südafrika heute?
Jazz als genuin südafrikanischer Stil mit eigener, lokaler Geschichte erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance. Vor allem junge Leute mit formaler Bildung wenden sich den Jazz-Genres und ihrer Geschichte zu. Das widerständische Potenzial wird dabei neu zusammengesetzt für die heutige Zeit. Das ist im Moment zwar weder gesellschaftlich relevant noch ein starker ökonomischer Faktor. Aber immerhin ein Neubeginn von lokalem Jazz, der von den wichtigsten historischen Momenten ausgeht.