Wie klingt Krieg? Im Geiste formiert sich ein gewaltiger Lärm, der durch Mark und Bein geht – in jedem Fall brutal! Verzerrt und viel zu laut. Krieg ist Noise. Eine Störung des Hörvermögens. Das, was man nicht hören will. Jihad, Terroranschläge, Plünderungen, Vergewaltigungen, Mord. Traumata.

Krieg singen, das Programm von Holger Schulze und Detlef Diederichsen, ist Teil der Reihe 100 Jahre Gegenwart. Die hundert Jahre sind von Kriegen durchzogen, erschreckend viele davon aktuell. Für das Jahr 2014 zählte das Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung 223 gewalttätige Konflikte, von denen 50 als Krieg eingestuft waren, das heißt als „hochgradig gewalttätig“. Prognose zunehmend.

Zum Zeitpunkt der Veranstaltung sitze ich einige tausend Kilometer entfernt in Dakar mit einem befreundeten Aktivisten zusammen. Ich recherchiere zu einer Anthropologie der Zukunft in seinem Heimatland. „Du versuchst Gewalt zu verstehen…“, er winkt ab. Ich habe Bücher gelesen, er kommt aus Guinea-Bissau: Der Befreiungskampf in den 1960ern, danach zahlreiche Putsche, ein Bürgerkrieg, unzählige Exekutionen und Morde unter politischen Gegnern, bis hin zum Präsidenten. Aktuell steckt das Land wieder in der Krise, Ausgang ungewiss.

Der Sound, den ich dazu höre, sind die Töne des Smartphones, wenn wieder eine neue Nachricht eingeht. Es gehen ständig neue Nachrichten ein. Auch auf meinem Smartphone. Gerade lese ich, dass ein Bekannter von mir im Verdacht steht, Teil einer bezahlten Todesschwadron zu sein. Mein Schlucken ist eher leise, wie auch die Tränen, die mir beim Lesen in die Augen schießen. Mein Gegenüber beobachtet mich. „Was du über Gewalt wissen solltest ist, dass du sie nie erleben möchtest.“ Sein Schweigen zum Bürgerkrieg ist beharrlich. No sound ist heard.

Die Klänge zum Krieg im HKW sind dagegen abrufbar. Ich höre mich durch die Mediathek des Hauses. Es geht weniger um das krachende, lärmig-verzerrte, das ich automatisch mit Krieg assoziiere. Stattdessen höre ich an Sonne und Strand erinnernde Reggae-Tunes als Soundtrack zu Vergewaltigung, Plünderungen und Mord. Wie im Beispiel des Bürgerkriegs in Sierra Leone. Der vertraute Groove des Reggae habe die Kämpfenden motiviert, so die Musikethnologin Cornelia Nuxoll. Per Upbeat ins Blutvergießen.

Dank Lars von Trier schwirrt mir zum Thema Gewalt stets Rammstein im Kopf herum. Oder Wagner. Kulturelle Prägung, erläutert Nuxoll im Panel. Uns ist die verzerrte E-Gitarre näher. Im Hintergrund meines Büros vermischt sich die Stimme von Kaiser Wilhelm mit der von Adolf Hitler, abgemischt von Andreas Ammer und FM Einheit. Deutsche Krieger.

Zwar behaupten die Kuratoren, dass Krieg rocken müsse, um zu funktionieren. Lassen aber im Programm das Gegenteil gelten, das ist angenehm undogmatisch: Im Falle der Nashid, jenen gechanteten Gebeten rund um den Jihad, die der Journalist Yassin Musharbash vorstellt, erklingt süßlich klingende Lyrik als emotionaler Verstärker kriegerischer Intentionen.

Übrigens auf Deutsch: „Die Schreie wurden lauter, die Wunden nahmen zu und ließen mir keine Ruh’. Noch heute muss ich gehen, morgen wäre es zu spät. Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Jihad.“ Ursprünglich auf Arabisch verfasst, werden die Gesänge weltweit übersetzt, wie Musharbash erzählt.

Dass Emotionen und Emotionalisierung besser entlang von Musik funktionieren, kennt man aus Filmen. Nicht nur die Darstellung von Krieg funktioniert so besser, auch die Motivation der Beteiligten. Musik taucht hier als Aufputschmittel auf: zum Weitermachen und zum Durchhalten. Rihanna, Marlene Dietrich, Bruce Springsteen – die Reihe der patriotischen Stars ist lang – sie alle sangen für ihre Jungs an der Front. Nicht zu vergessen, natürlich, die Songs, die in der Heimat gespielt werden, um moralisch Druck auszuüben und zu rekrutieren. „Uncle Sam needs – You!“ Popmusik und Nashid reichen sich die Hand.

Aus der Distanz – ob historisch, geografisch oder eben sprachlich – wirken Hetzpropaganda oder skandierende Massen oft hysterisch. Die Nähe fehlt – auch emotional. Wir gegen die Anderen. Othering nennt man das Prinzip in der Ethnologie. Eine Strategie der Exotisierung und Distanzierung. Die haben dann nichts mit mir zu tun. Mit uns. Da kann man leichter draufschauen, draufhauen. Entwerten. Gilt für Sklaven, Untermenschen, Feinde. Küchenpsychologie mit weltweiter Relevanz.

Auch in vielen Nationalhymnen: „Marschieren wir, marschieren wir! Unreines Blut tränke unsere Furchen…“ so der Titeltrack der abendländischen Demokratie, die Marseillaise. Das Klebemittel einer gemeinsamen Geschichte. In den Gesprächsrunden am HKW wird auf Eric Hobsbawms „erfundene Traditionen“ und Benedict Andersons „imagined communities“ verwiesen. Die historische Gemeinschaft in den Köpfen der Menschen gilt in der neueren Gesellschaftstheorie als veraltet. Das gesellschaftliche „Wir“ wird aktuell als ständig neu verhandelte Form angesehen. Das ist die akademische Analyse. Die Realität ist brutaler.

Der Völkermord in Ruanda 1994 zum Beispiel. In etwas mehr als drei Monaten töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit den überwiegenden Teil der dort lebenden Tutsi-Minderheit. Schätzungen schwanken zwischen eine halben und einer Million Toten. Angeheizt von den Hasstiraden der Radiostation RTLM, die der Schweizer Theatermacher Milo Rau in Hate Radio als Mikrogeschichte zeigt: die Markierung in Wir und die Anderen bis zur Auslöschung.

Aus meinen Computerboxen plärrt Kriegspropaganda und Kriegslärm von Ammer und FM Einheit. „Wollt ihr mit dem Wunschkonzert den Krieg gewinnen?… Wir haben rings um uns herum Feinde. Hier ist Afrika und Katania! Achtung! Noch einmal Südfrankreich! …“ Die Beats gehen in die Füße, das Inhaltliche in die Hirnwindungen. Ein Rauschen macht sich breit. Wahrscheinlich hat man damals so am Radio geklebt, wie ich heute an Smartphone und Skype.

Während im Sommer 2015 die ersten Nachrichten der aktuellen Krise aus Bissau die Runde machen, erzählte mir eine Bekannte von Freunden, die plötzlich unbedingt Kriegsfilme schauen wollten. Den Anblick von Gewalt auf der Mattscheibe dann zwar nicht ertrugen, aber auch nicht ausschalten konnten. Die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg steckte ihnen in den Knochen. Genauso wie die Erinnerung an den vergangenen. Ein unhörbarer Klang, der schmerzt.

Dagegen steht im Panel Töten mit Klang, die umgekehrte Frage – ob Musik und Klang töten können. Hier geht es aus technologischer Sicht um Unhörbares. Wie in den Klangbombenexperimenten der Nazis, die als Pioniere des Sonic Warfare gelten, jener Kriegsführung durch Schallwellen rund um den Traum einer unsichtbaren Waffe. Den Nazis gelang es einen Hund durch Schall zu töten. Wenn auch mit haushohen und entsprechend sichtbaren Lautsprechertürmen.

Hörbares wird im Falle von Musikfolter relevant. Die Musikauswahl wirkt dabei banal. Auf der Playlist in Guantánamo finden sich neben Heavy Metal und Grunge auch R&B und Kinderlieder. Kann Rihannas Musik böse sein? Oder Kinderlieder? Es geht um die Inhalte – oft wird von Liebe gesungen – aber auch um das Prozedere. Wie lange erträgt man „I love you“ von Barney the Dinosaur in der Dauerschleife? Das Kinderlied ist 43 Sekunden lang. Folter heißt, dass man sich nicht gegen Gewalt wehren kann.

Die Musikethnologin Cornelia Nuxoll beschreibt für den Bürgerkrieg in Sierra Leone den Einsatz von Ghettoblastern, fahrenden Soundsystems und Radio. Die Kämpfenden brachten ihren eigenen Soundtrack mit. Diese Klangsignaturen, ähnlich wie Fanfaren oder Sirenen, schreiben sich in die Erinnerung der Beteiligten ein. „Recorded affects“ nennt man dieses Zusammenwirken von körperlicher Erinnerung durch Musik und Klang, wie Holger Schulz erklärt.

In Bissau spielen die Radiosender während der Krise Friedenslieder und Berichte über Mahatma Gandhi und Nelson Mandela in der Hot Rotation, man hört Gleichnisse von Aussöhnung und Verzeihen. Peace-Propaganda. Beruhigende Klänge gegen die Angst vorm Militär und dem drohenden Blutvergießen. Eher eine Überschreibung. Nach dem Krieg ist Krieg das Unaussprechliche. Harmonie ist eine Strategie. In diesem Kontext wird das Schweigen beredt.

Dabei heißt es, dass am Ende wieder gesungen wird: zum Ruhm der Feldherren und Klage um die Gefallenen. Die Gewinner singen andere Lieder als die Verlierer. Eine musikalische Art der Geschichtsschreibung, die erneut in richtig und falsch, gut und böse unterscheidet. Der angolanische Künstler Victor Gama fügt aus Kriegs- und Waffenresten neuartige Instrumente zusammen. Neue Töne und Formen für alte Melodien, nennt er es im Gespräch.

Die Intonarumoris, die Lärmmaschinen der Futuristen, und deren Funktion als Noise-Generatoren kommen mir wieder in den Kopf. Der Klangkünstler Yuri Landman hatte beschrieben, dass sich das menschliche Ohr aus dem verzerrten Klang von Noise, der eigentlich jeder Melodie entbehrt, auf bestimmte Töne konzentrieren könne. Informationen von Nicht-Informationen filtern. Versteckt im Lärm fänden sich dann Melodien und Töne, aus denen man sich akustische Wunschlandschaften bauen könne: „Dreaming your own dream in the landscape of tones.“ Den Rest blende man als Störung aus. Eine passende Metapher für Krieg.

Gestern wurde die Regierungswebseite in Guinea-Bissau gehackt. Anstelle der Regierungsnachrichten steht dort nun: „Sem Guerras, Sem Religiões, Sem Poderes Financeiros por um Mundo Melhor.“ Ohne Kriege, ohne Religion und ohne Finanzkräfte für eine bessere Welt.

Gerade kommt eine neue Nachricht auf mein Handy. Eine Journalistin aus Bissau schreibt, dass es jeden Tag schlimmer werde und nur noch Gott helfen könne. Mein Freund in Dakar schläft zur Zeit sehr wenig. Ein befreundeter Soziologe beschränkt sich auf die nüchterne Analyse: Die größte Angst sei ein erneuter militärischer Staatsstreich. – Die eigene Geschichte, aus reiner Gegenwart…

Ich schicke einen Song nach Bissau, Paz, Frieden.

Music for a forgotten future würde besser passen.