Onkel saß auf seinem Stuhl, das Gesicht zum Fenster und zu den Vorhängen gedreht, die Fingerspitzen in die Schreibtischkante gekrallt. Von da, wo du standest – hinter ihm, am anderen Ende des Raumes, bei der Tür – konntest du Ruby kaum sehen zwischen seinen Knien. Aber da kniete sie, die dünnen Beine säuberlich untergeschlagen, ihre Hände auf seinen Knien, das herzförmige Gesicht in seinem Schoß. Das Geräusch, das sie machte, klang in deinen Ohren, als würde sie in ihrem Eimer Wäsche waschen, ein rhythmisches Schwappen, gleichförmig, fast mechanisch, nass. Onkel gab ein bizarres Jaulen von sich, wie die Hunde, bevor sie Prügel bezogen. Und du bliebst stehen und starrtest wie gebannt auf die Bücher.
Ruby sah dich, und Onkel schrie auf, als hätte ihm jemand eine schlimme, unsichtbare Wunde zugefügt. Und jetzt sahst du, dass seine Hose sich unten um seine Knöchel knüllte, wie eine Pfütze. Und jetzt sah er dich, stumm, bei der Tür. Er packte Rubys Kopf und riss ihn aus seinem Schoß. Ruby sackte in sich zusammen und lag auf dem Teppich wie eine Puppe.
„Du blödes Mädchen!“, keuchte Onkel. „Raus hier! Verschwinde!“ Ob das dir galt oder ihr, war dir nicht klar.
Ruby rappelte sich hoch. Du bist zur Tür raus gestolpert. Ruby hatte nur ihre lappa und einen zerschlissenen Spitzen-BH an. Sie warf dir kurz einen Blick zu, als du die Tür zumachtest. Ihre Mandelaugen glitzerten hasserfüllt.
Diesen Blick kanntest du. Du hattest ihn schon mal gesehen – an dem Morgen in Lagos, bei deiner Mutter und Sinclair. Du hattest in der Küche rumgesessen und darauf gewartet, dass die Köche mit dem Frühstück fertig werden. Genau wie Francis das bei Iago machte, schoben sie dir alles zu, was danebengegangen war: zusammengefallenes Soufflé, Obst mit braunen Flecken, krossen Speck, verkohlte Toastscheiben. Der Trick war: Man musste auftauchen, nachdem Sinclair seine Runde gemacht und an allem herumgemeckert hatte, um dann bis zum Dinner zu verschwinden. Die Ausbeute des Vormittags war mehr als reichlich gewesen: genug Obst für eine Woche, Pfannkuchen, zu hart gekochte Eier. Einer der jüngeren Köche hatte die Sachen auf einen Rollwagen aus Metall gepackt und dich mit dem Lastenaufzug nach oben in dein Zimmer befördert.
Der Rest ist in deiner Erinnerung keine Abfolge von Ereignissen, sondern nur ein Blick, ein einziger Blick. Eine Postkarte. Du musst die Schlüsselkarte in die Tür gesteckt haben, das leise Piepsen, das grüne Blinken, ein Geräusch. Aber offenbar haben sie dich nicht gehört. Also hast du den Wagen ins Zimmer geschoben und bist in der Tür stehen geblieben, stumm und starr.
Dieser Blick.
Deine Mutter auf dem Fußboden. Sinclair, hinter ihr kniend, das gemeinsame Stöhnen eine scheußliche Melodie, der Schweiß. Ihre Augen weit aufgerissen, als sie aufschaute und dich sah, überrascht, dass du schon aus der Küche zurück warst, so schnell. Und der Hass. Blitzende Messer in der Dunkelheit ihrer Iris. Unmissverständlich. Du hast den Wagen stehen lassen und bist weggerannt.
Vom Arbeitszimmer in dein Zimmer.
Tür zu. Dagegen lehnen. Das Rauschen in deinen Ohren – schwappende Wäsche, Eimer mit Seifenlauge. Die hellblauen Zimmerwände bebten, schien es dir, wie eine Tsunamiwelle, die sich gleich überschlagen wird. Das Bild (noch keine Erinnerung) – Onkel auf seinem Schreibtischstuhl; Ruby zwischen seinen Knien kniend, als wollte sie beten – das Bild flimmert hinter deinen Augenlidern, wie ein Film, dessen Bedeutung du nicht ganz erfasst. Aber du hast es kapiert. In dem Moment, als du da standest, mit dem Rücken zur Tür, ein Kloß in der Kehle, der Puls in deinen Ohren, da hast du kapiert, dass du es bist, die Unrecht hat, nicht sie. Du hast dich geirrt, als du Mitleid mit Ruby hattest. Ruby. Wenn sie es schaffte, Onkel dazu zu bringen, dass er jaulte wie die Hunde, bevor sie geschlagen wurden, dann bedeutete das, dass unter diesem Dach, in diesem Haus etwas möglich war, etwas anderes als das, was du jeden Tag durchmachtest – und du hast dich gefragt, ob es besser, ob es wünschenswert wäre? Du hast Ruby um etwas beneidet, wusstest aber nicht, was es war. Du standest an deine Tür gelehnt und hast gezittert vor Neid.
Jemand kam näher.
Du hörtest die Schritte (kleine) auf der anderen Seite der Tür. Dann leise Schritte auf der Treppe, abwärts. Du hast kurz gewartet und dann die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Niemand zu sehen. Dein Blick fiel auf Comforts Taschenbücher, die jemand vor deiner Tür gestapelt hatte. Wie eine Opfergabe. Du schautest den Flur hinunter zum Arbeitszimmer, die Tür stand offen. Die Vorhänge waren jetzt offen, blendend helles Licht. Du nahmst die Bücher und gingst die Treppe hinunter. Die Botschaft – ob von Onkel oder von Ruby – war eindeutig.
Also bist du in den Garten gegangen, was du auch getan hättest, wenn du das, was du gerade im Arbeitszimmer gesehen hattest, nicht gesehen hättest. Du hast keinem etwas gesagt, weder Francis, der gerade mit den Chin-chins anfing, noch Iago, der dabei war, den Tischschmuck aus Fackelingwer zu gestalten, als du hereinkamst. Und zu Comfort hast du auch nichts gesagt, als du sie auf einem Handtuch beim Pool liegen sahst, in ihrem Bikini.
Du bliebst stehen und schautest auf sie runter. Sie drehte sich ein bisschen und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu dir hoch.
„Ah, du hast die Bücher“, sagte sie.
Du nicktest. Dann, leise: „Danke.“
„Gern.“ Sie lächelte. Dann schloss sie die Augen. Und ohne sie wieder zu öffnen: „Du stehst mir in der Sonne.“
Bedienstete liefen kreuz und quer durch den Garten, klappten runde Holztische auf, schmückten die Mauern mit Lichterketten, ignorierten Comfort am Pool. Der Garten, halb fertig, wie eine Frau, die sich zurechtmacht und nackt vor dem Spiegel steht, nur mit einer Halskette und mit Schuhen bekleidet. Das nervige Sirren der Moskitos und das süße Aroma der Chin-chins. Nicht zum ersten Mal dachtest du ans Weglaufen. Sie waren alle so beschäftigt mit ihren Vorbereitungen, die Houseboys und die Bediensteten. Comfort, die sich im Bikini sonnte, Iago, der beim Pool arbeitete. Du hättest gehen können, ohne dass einer etwas merkt, die Bücher irgendwo ablegen, verschwinden. Da, am Ende des Gartens, war die Tür.
Du hast dich schon immer gefragt, wohin sie führte; sie war dauernd zu, niemand benutzte sie. Du hast es ernsthaft überlegt, plötzlich war da Hoffnung, keine hundert Meter entfernt. Vielleicht führte die Tür ins Nimmerland? Nach Nigeria? Oder einfach zu einem Weg durchs Gestrüpp zur Straße? Du hast die Entfernung vom Baum zur Tür geschätzt, als dich plötzlich der Gedanke überkam: Was, wenn sie weg ist? Was, wenn die anderen recht haben und sie nach Abuja abgehauen ist, ohne sich bei Onkel zu bedanken, ohne an dich zu denken? Jetzt bekamst du keine Luft mehr, dein Herz begann zu klopfen, fast im gleichen Rhythmus wie der Hammer: PLONG! PLONG! Zwei Zimmerleute bauten die Tanzfläche auf, schlugen Nägel ein: PLONG! PLONG!, während deine Brust sich weigerte, Luft hereinzulassen.
Auftritt Tante.
Sie stand auf der anderen Seite des Gartens, in der Tür zum Wohnzimmer, mit einer riesigen blauen Sonnenbrille, und rief deinen Namen. An der Art, wie sie mit ihren Blicken den Garten absuchte, merkte man, dass sie nicht sehen konnte, wie du hinter dem Schleier aus Blättern kauerst, stumm, nach Atem ringend. Tante wollte schon gehen, doch dann entdeckte sie Comfort beim Pool. „Mein Gott, Kind! Was machst du?“
Comfort richtete sich leicht auf, überschattete die Augen mit der Hand, ihr Bauch schlug Falten. „Ich nehme ein Sonnenbad, Mutter. Das ist gut für die Haut.“
„Du wirst dunkler!“
„Ja, kann sein.“
„Werd‘ nicht frech. Heute Nachmittag kommt dein Mann. Du musst etwas anziehen.“
„Er ist mein Verlobter.“ Comfort legte sich wieder auf das Handtuch zurück. Tante schaute zu den Bediensteten, die den Dialog verfolgt hatten. „Was gibt’s da zu gaffen?“ Niemand reagierte. Tante fauchte: „Wo ist die Kleine?“
Endlich ein Atemzug. „Ich bin hier, Madame“, riefst du heiser und kamst hinter dem Laubvorhang hervor. Tante musterte dich beiläufig, als wärst du schon die ganze Zeit da gestanden. Dann blickte sie auf Comfort hinunter, zog kurz die Luft ein, wandte sich ab. „Kwabena kommt. Da kannst du nicht halbnackt rumlaufen.“ Und über die Schulter, an dich gerichtet: „Komm schon, wir gehen.“