Die postkoloniale Welt ist in einem Dilemma gefangen, welches keine einfache Lösung kennt. Das formelle Erlangen der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien und Protektorate in Asien und Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg hat nicht das Ende des westlichen Imperialismus herbeigeführt. Die epistemologischen und materiellen Bedingungen, auf welche sich der europäische Kolonialismus stützte, gestalten weiterhin unsere Welt, und die postkolonialen Nationalstaaten sind somit nach wie vor mit dem ambivalenten Erbe der Kolonialreiche konfrontiert. Von Entwicklungspolitiken bis zu Friedens- und Sicherheitsfragen, von Menschenrechten bis zu Handelspolitiken, vom Klimawandel bis zum Recht auf geistiges Eigentum; Problemwahrnehmung und Lösungsfindung sind weiterhin durch koloniale Beziehungen geprägt. Dies ist auch im Kontext unserer Debatte um transnationale Gerechtigkeit der Fall.

Angesichts wachsender globaler Abhängigkeitsverhältnisse steigt die Erwartung, dass mächtige Akteure, Organisationen und Nationalstaaten eine ethische Verantwortung gegenüber den verletzlichsten Teilen der Weltbevölkerung übernehmen müssten. Die Forderung, dass transnationale Eliten über ihre engen territorial basierten Eigeninteressen hinaus zur Förderung und zum Schutz der Gerechtigkeit handeln müssten, erscheint auf den ersten Blick überzeugend. Derzeitige Bestrebungen im „Interesse“ von weit entfernten Anderen zu sprechen und zu handeln, erwecken hingegen in Anbetracht der langen und gewaltsamen Geschichte der kolonialen Interventionen in die nicht-westliche Welt oftmals Argwohn und Misstrauen. Euro-amerikanische Suprematie und Paternalismus werden hier abermals neu hergestellt, wobei beide Mächte erneut als diejenigen handeln, die über Recht und Gerechtigkeit verfügen.

Gerechtigkeit wird gemeinhin als eine Schaffung egalitärer Gesellschaften verstanden und soll dazu dienen, Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichheit zu garantieren und die Würde aller Menschen zu schützen. Gründet Gerechtigkeit auf Konzepten wie Menschenrechte und Demokratie, umfasst sie auch die Möglichkeit, materielle und diskursive Chancengleichheit zu erlangen.

Die Fragen, was gerecht ist und was die besten Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit sind, gaben in den letzten Jahrzehnten Anlass für eine intensive Debatte. Die Idee eines objektiven Standards von Gerechtigkeit wurde von verschiedenen Seiten, unter anderem von Feminist*innen, kritischen Rassismusforscher*innen sowie aus Perspektive der queeren und postkolonialen Theorien, herausgefordert und kritisiert. Diese Debatte zog zudem eine kritische Auseinandersetzung mit dem normativen Dilemma westlicher Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit nach sich. Zentrale Fragen dieser Auseinandersetzung sollten klären, ob sich auf Grundlage jener zentralen westlichen Konzepte Handlungsmöglichkeiten für entrechtete Gemeinschaften eröffnen oder inwiefern sie hegemoniale Normen und Herrschaftsverhältnisse zwischen jenen, die Gerechtigkeit geben und jenen, die sie lediglich erhalten, verstärken. Die meisten Gerechtigkeitstheorien sind aufgrund ihrer Verankerung in einem westlichen (hetero)normativen Bezugssystem als euro- und androzentrisch kritisiert worden. Hieraus ergeben sich folgende Fragen: Gibt es objektive Standards der Gerechtigkeit, die universell anwendbar sind, unabhängig von Kultur, „Rasse“, Geschlecht, Religion, Nationalität oder anderen Faktoren? Und wenn nicht, welche Auswirkungen hat dies auf die globale Verteilung von Gerechtigkeit und ihrer Funktionsweisen? Wer autorisiert Normen der Gerechtigkeit und was passiert mit jenen, die sich nicht als Objekte unseres Wohlwollens sehen?

Mein Artikel stellt eine postkolonial-feministische Lesart von Gerechtigkeitsdiskursen dar, welche aufdeckt, wie Neo-Kolonialismus im Namen des so genannten „Richten von Unrecht“ (Gayatri Chakravorty Spivak, „Righting Wrongs“, in: The South Atlantic Quarterly, Nr. 103/2-3, 2004, S. 523-581) gerechtfertigt wird. Ziel ist es, eine Reihe von Fragen betreffend der historischen und kulturellen Situiertheit von Gerechtigkeit und ihrer Anwendbarkeit vor allem in postkolonialen Kontexten zu formulieren.

Mein Text beginnt mit einer knappen Hinterfragung kolonialer Kontinuitäten in aktuellen Gerechtigkeits-, Friedens- und Menschenrechtsdiskursen. Weitere Passagen befassen sich mit der Herausforderung, den eurozentrischen Blickwinkel mit Hilfe der Leseweise von Gerechtigkeit und Menschenrechten als „reisenden Konzepten“ (travelling concepts) zu überwinden sowie mit der Frage, inwiefern Geschlechtergerechtigkeit mehr darstellt als Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Vielmehr hilft eine intersektionale Herangehensweise unser Verständnis von Geschlechterverhältnissen als Macht- und soziale Kräfteverhältnisse zu stärken. Ein weiterer Abschnitt verdeutlicht die Bedeutung des Begriffes der „normativen Gewalt“ (normative violence, Judith Butler: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, 10. Ausgabe, London: Routledge 1999, S. xx). Hierdurch soll die gleichzeitig ermächtigende und entmachtende Funktion von Normen wie Gerechtigkeit auf der rechtlichen als auch auf der sozio-kulturellen Ebene verständlich gemacht werden. Der Schlussabschnitt schlägt vor, Gerechtigkeit als utopisches Konzept zu lesen. Dieser Ansatz fordert von den „Geber*innen“ transnationaler Gerechtigkeit permanente Wachsamkeit in ihren Anstrengungen, Unrecht zu richten.

Gerechtigkeit dekolonisieren

In seinem Buch The Other Heading: Reflections on Todays Europe (Bloomington: Indiana University Press 1992) stellt Jacques Derrida fest, dass Europa schon immer dazu tendiert hat sich als „cultural capital“ (von caput, Kopf, Haupt) der Welt zu sehen, die der „world civilization or human culture in general“ als Orientierung diene (S. 44ff.). Die Rolle der „Norm-Produzenten“ (juristisch als auch sozio-kulturell) die Euro-Amerika historisch für sich beansprucht, beinhaltet die Vorstellung, was für Euro-Amerika gut ist, muss auch für den Rest der Welt gut sein. Diese Überzeugung ist mit einem ausgeprägten Missionsgedanken verbunden, wonach Euro-Amerika die Verantwortung dafür habe, weltweit Gerechtigkeit zu verbreiten. Die Idee von Euro-Amerika als Garant für globale Gerechtigkeit stellt eine Kontinuität mit der Vorstellung von der „Bürde des weißen Mannes“ her, nach welcher die Europäer die Verantwortung und Pflicht hätten, den Rest der Welt zu „retten“ und zu „erleuchten“. Nach dieser Logik wurde und wird jegliche europäische Intervention als Prozess der Befreiung legitimiert. Widerstand gegen die Einmischung wird hingegen als Anzeichen der Barbarei gegenüber den Kräften der Gerechtigkeit gelesen, als Ablehnung der europäischen Aufklärung und als ein Ausdruck der Undankbarkeit gegenüber der Güte der Bringer*innen von Frieden und Gerechtigkeit, was gleichsam die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Gegenwehr in den Augen der Europäer*innen rechtfertigt. Rassistische Diskriminierung, kulturelle Unterordnung und ökonomische Ausbeutung von Nicht-Europäer*innen wurde und wird im Namen der guten Taten für die Welt legitimiert, im Namen von Fortschritt, Entwicklung, Demokratie und dem Schutz von Gleichheit und Freiheit. Moralisches und rationales Handeln von Einheimischen wird nach dieser Logik automatisch als Wohlwollen gegenüber westlichen Interventionen gedeutet.

Der euro-amerikanische Anspruch auf Führung in den Bereichen von Gerechtigkeit und Menschenrechten basiert auf der Behauptung moralischer und der Geltendmachung militärischer Überlegenheit. Dieser Anspruch auf Führung, der festlegt, was richtig und gerecht ist, findet sich im Kern der außenpolitischen Ausrichtung (foreign policy legitimacy) der meisten westlichen Länder. Die „Geber*innen“ von Gerechtigkeit beanspruchen für sich die „normative Macht“ entscheiden zu können, was „gerecht“ und „gut“ ist, wobei diejenigen, die lediglich auf der Seite der „Empfänger*innen“ von Rechten und Gerechtigkeit stehen, zu reinen „Konsument*innen“ von Normen gemacht werden. An der Verbindungsstelle zwischen denen, die handeln, und jenen, über welche hinweg gehandelt wird, entsteht eine Vorstellung ethischer Verantwortung, durch welche Euro-Amerika die Handlungsmacht im Namen des Schutzes und der Übernahme von Verantwortung monopolisiert. Im Gegenzug stellt die Dankbarkeit, die von jenen, deren Unrecht von den moralischen Gutmenschen gerichtet wurde, erwartet wird (und teilweise auch vorhanden ist), eine grausame Erinnerung daran dar, dass aus der formellen Machtübergabe der kolonialen Herrschaft an die einheimischen Eliten weder die Dekolonisierung des globalen Südens noch des globalen Nordens resultierte.

Die Konstruktion „des Westens“ als normative Macht hinterlässt eine Spur gewalttätiger und ausbeuterischer Systeme im Namen von Modernität, Fortschritt, Rationalität, Emanzipation, Recht, Gerechtigkeit und Frieden. Nicht-westliche Individuen, Gruppen oder Staaten, die beanspruchen als „zivilisiert“ und modern anerkannt zu werden, können einzig das europäische Normensystem nachahmen oder sie riskieren, sich der Gewalt auszusetzen, zwangsweise „zivilisiert“ und modernisiert zu werden. Aufgrund ihrer Überlegenheit wird angenommen, dass die europäischen Normen es wert seien sie nachzuahmen. Gerade weil die Einheimischen allerdings nur versuchen können, so wie Europäer*innen zu sein, müssen sie scheitern. So kann der Versuch, die europäischen Normen zu imitieren nur „schlechte“, „schwache“ oder „gescheiterte“ Kopien produzieren, was wiederum die Autorität des europäischen „Originals“ untermauert. Die Legitimität und die Effizienz lokaler Mechanismen und Praktiken werden durch das top down-Modell transnationaler Gerechtigkeit untergraben, welches die Singularität der Kontexte, in welcher Gerechtigkeit operationalisiert werden muss, ignoriert. Auch wenn der Werkzeugkasten der „Geber*innen von Gerechtigkeit“ umfangreich und auf verschiedenste Kontexte anwendbar ist, impliziert die „Einheitsgrößen“-Attitüde (one size fits all) ein Verständnis von transnationaler Gerechtigkeit als Imperativ ohne Berücksichtigung des sozialen Kontextes, in dem sie zur Anwendung kommt. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn die Eckpfeiler von Gerechtigkeit, wie Menschenrechte oder Demokratie, in den verschiedenen sozio-politischen Kontexten unterschiedliche historische Bedeutungen haben. Diese Vielfalt von Interpretationen und Verhandlungen jener Konzepte zu ignorieren, führt dazu, dass das Streben nach transnationaler Gerechtigkeit und ihre Anwendung als Alibi für Neo-Kolonialismus wahrgenommen werden. Andererseits bringt die Kritik eines universellen Gerechtigkeitsbegriffes die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten mit sich, die als „lokale Praktiken“ verteidigt und aufrechterhalten werden. Dies wirft das folgende Dilemma auf: Wie können Gerechtigkeitsfragen angesprochen werden ohne in die Falle des Universalismus einerseits und des kulturellen Relativismus andererseits zu tappen?