In all Ihren jüngeren Arbeiten setzen Sie sich intensiv mit der Situation in Syrien auseinander. Wie gehen Sie in Ihrer aktuellen Arbeit für das HKW damit um?
In den letzten Jahren haben sich alle meine Arbeiten mit der aktuellen Situation in Syrien auseinander gesetzt, weil es eine fortlaufende Tragödie ist, bei der kein Ende in Sicht ist. Deshalb ändert sich auch jedes Mal, wenn ich an das Thema herangehe, meine Position. Sie ändert sich, weil die Situation in Syrien sich ständig ändert. Erst kürzlich wurde mir dadurch klar, dass ich meine Auseinandersetzung mit den generellen Umwälzungen und politischen Transformation dieses Mal über privatere Narrative vermitteln wollte, aus einer persönlicheren Perspektive.
Inwiefern hat diese Entscheidung Ihren Fokus auf Aleppo beim kommenden Projekt beeinflusst?
Das Projekt nahm nach den jüngsten schrecklichen Ereignissen in Aleppo Form an; nach den brutalen Bombardements von russischer Seite, vom syrischen Regime und seinen Verbündeten. Wir wissen, wie das geendet hat: Es führte zur vollkommenen Zerstörung des östlichen Teils der Stadt. In meinem Projekt geht es also um Aleppo, aber eigentlich um die Umwälzungen, die in der gesamten Region stattfinden. Ich versuche zwar, die Geschichte der Stadt so zu erzählen, dass die Ereignisse der letzten Jahre im Vordergrund stehen, aber eben aus der Perspektive von Menschen, die den Ort kennen. Es war mir sehr wichtig, die allgemeinen, herrschenden Erzählungen über die Stadt und über Syrien zu vermeiden. Ich wollte keine eindimensionalen Narrative, wie sie die Medien und auch die geopolitischen Analysen fortschreiben. Ich wollte die Geschichte von marginalisierten Orten erzählen, die Geschichte von versteckten, unbekannten Räumen, auf die die Welt oft nicht blickt. Denn jeder von ihnen bedeutet denjenigen etwas, die mit ihnen verbunden sind. Und mich interessieren die komplexen Leben, die sich hinter der Geschichte dieser Orte abspielen.
Ihr Projekt spricht das Thema der Abwesenheit an. Wie wird die Abwesenheit der Räume künstlerisch umgesetzt?
Das war tatsächlich eine große Herausforderung. Für mich, als jemand, der Syrien verlassen musste, der seitdem von einem Ort zum nächsten zieht, beherrschen Worte wie „Abwesenheit“ fast jeden Diskurs. Seit ich von zu Hause weg bin, habe ich in Syrien keinen Einfluss mehr. Und manchmal weigere ich mich fast zu glauben, was dort tatsächlich passiert. Wir in der Diaspora vermischen immer wieder die Realität mit Erinnerungen. Denn manchmal ist das die einzige Art, mit der Situation fertig zu werden. Es ist eine Form des Widerstands, wenn Sie so wollen; es überzeugt uns davon, dass es immer noch Dinge gibt, die uns lieb und wichtig sind, die wir behalten wollen und aus denen wir Hoffnung ziehen können. Vor diesem Hintergrund wollte ich Menschen über ihre geliebten Orte in Aleppo befragen.
Wie übersetzen Sie diese Geschichten in den riesigen Raum des HKW-Auditoriums?
Wir arbeiten mit Schauspieler*innen, die als Vermittler*innen zwischen den Interviewten, ihren Geschichten und dem Publikum agieren. Und für mich spiegelt gerade die Abwesenheit der Interviewten den ständigen Kampf der Syrer*innen wider, anderen ihre Situation zu erklären. Wir haben immer noch viel zu tun, um festgelegte Konzepte und Stereotypen über dieses Land zu dekonstruieren – historische und aktuelle. Denn bislang gibt es fast nur Berichte über Radikalismus und den Islamischen Staat (IS) gegen das Assad-Regime – als wäre das unsere einzige Erzählung. Mir fehlten die Erzählungen von richtigen Menschen, richtige Stimmen. Deshalb vermeiden wir in diesem Projekt auch Bilder. Um die Geschichten für sich selbst sprechen und das Publikum genau hinhören zu lassen, ganz behutsam, in Eins-zu-Eins-Begegnungen.
Wen haben Sie interviewet und was hat sie bei den Erinnerungen der Befragten besonders berührt?
Wie haben Interviews mit Leuten aus der ganzen Stadt geführt. Da Aleppo, was die Bevölkerung angeht, die größte Stadt Syriens ist, gibt es dort auch die größte gesellschaftliche und ethnische Vielfalt. Wir haben versucht, diese Vielfalt widerzuspiegeln und mit Leuten ganz unterschiedlicher Communities und Hintergründe gesprochen: Menschen, die hoch gebildet waren und Menschen aus marginalisierten Gegenden der Stadt. Das war so beabsichtigt. Wir wollten nicht nur im Kreis von Intellektuellen bleiben, die daran gewöhnt sind, sich auf eine bestimmte Art zu äußern. Die zehn Leute, deren Aussagen im Projekt enthalten sind, leben derzeit in Beirut, Brüssel, in der Türkei, in Kopenhagen, Stockholm, Paris und sogar noch in Nordsyrien, was viel über die heutige syrische Diaspora aussagt. Denn jeder einzelne dieser Menschen hat eine ganz spezifische Beziehung zu seiner Stadt. Ein Schuhmacher beispielsweise spricht über einen Bürgersteig als seinen Lieblingsort, weil die Leute in den syrischen Vororten immer draußen sitzen. Der Gehsteig ist ihre Community, eine Erweiterung des Zuhauses. Ein Professor spricht dagegen über ein altes Gebäude im raueren Teil der Altstadt von Aleppo, das renoviert wurde, um es als Kulturzentrum zu nutzen. Er leitete die Renovierungsarbeiten, und erlebte dabei, wie unterschiedliche Schichten der Stadtgeschichte zum Vorschein kamen, die in den Ruinen des Hauses begraben waren. Da er in diesem Teil von Aleppo ein Fremder war, wurde der Renovierungsprozess zu seiner ganz persönlichen Reise, die Stadt auf eine tiefergehende Art kennenzulernen. Nicht nur ihre jüngere Geschichte, sondern auch die komplexen Machtverhältnisse, die sich schon länger in ihr verbergen.
Sie sind auch ein Fremder in Aleppo, sind nicht dort aufgewachsen. Wie hat dies ihre Arbeit über die Stadt geprägt? Und haben Sie einen Lieblingsort?
Nicht aus Aleppo zu sein, war extrem interessant. Ich kenne die Stadt, aber es ist nicht meine eigene. Deshalb war es so wichtig, sich auf die Aussagen von anderen Menschen zu stützen. Ich wollte vor allem eine umfassende Karte zeichnen, um zu erklären, wie die Stadt in ihre schreckliche aktuelle Situation geraten konnte. Es ist eine besondere Karte, eine Karte aus sehr persönlichen Erzählungen. Mein Lieblingsort in Aleppo liegt im östlichen Teil der Stadt. Im Sommer 2013 habe ich einige Zeit dort verbracht. Ich war dort für einen Theaterworkshop. Von den Teilnehmer*innen habe ich sehr viel darüber gelernt, wie es sich anfühlt, in ständiger Gefahr zu leben und dabei die Hoffnung nicht zu verlieren – zu versuchen, den Geist des Aufstands am leben zu erhalten und ihn vor diversen tyrannischen Übergriffen zu schützen. Viele der Menschen, mit denen ich dort gelebt hatte, wurden später getötet. Manche sind bei den Bombardements des Regimes umgekommen, andere wurden vom IS ermordet. Doch die Erinnerungen an meine Zeit dort bleiben lebendig. Dasselbe gilt für die Geschichten der interviewten Menschen. Denn sie alle sprechen über ihre persönlichsten Beziehungen zu Syrien. Über Erinnerungen, die im starken Kontrast zu dem Bild des Landes stehen, das man von den Medien erhält: Als wäre Syrien erst vor sechs Jahren entstanden.