Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit für die Ausstellung 2 oder 3 Tiger?

Anselm Franke: Hyunjin Kim hatte mich eingeladen, mit ihr in Korea zu arbeiten. Wir haben 2013 eine Sektion der Ausstellung Animismus im Ilmin Museum of Art in Seoul kuratiert. Das war der Beginn unserer Zusammenarbeit. Und es schien sinnvoll, einige unserer gemeinsamen Ideen weiterzuentwickeln.

Hyunjin Kim: Wie schon auf der Taipei Biennale, die von Anselm Franke kuratiert wurde, habe ich auch bei der Arbeit an Animismus viel über seine Ansätze erfahren und ihn ins Ilmin Museum of Art in Seoul eingeladen, wo ich 2013 tätig war. 2015 habe ich eines seiner Projekte am Asia Culture Center (ACC) in Gwangju gesehen. Genau genommen war das die erste Version der Ausstellung 2 oder 3 Tiger, denn der Grundgedanke der laufenden Ausstellung war hier bereits erkennbar. Tatsächlich war diese Ausstellung der Ausgangspunkt, die Arbeiten von Ho Tzu Nyen und Jane Jin Kaisen, und wir haben sie um weitere Künstler*innen aus Südkorea, Japan und Taiwan ergänzt.

Wie lautete der Ausstellungstitel im ACC?

Anselm Franke: Er lautete Interrupted Survey und bezog sich auf eine Lithografie aus dem späten 19. Jahrhundert, die Ho Tzu Nyen als Grundlage für seine Arbeit über Tiger diente. Die Lithografie zeigt eine Straßenvermessung im Dschungel des kolonialen Singapur in genau dem Moment, als sie durch einen Tigerangriff unterbrochen wird. Ich habe den Titel Interrupted Survey auch deshalb verwendet, um eine Brücke zu der Frage zu schlagen, inwiefern Vermessungstechnologien heute Teil des Alltags sind und was eine Unterbrechung dessen sein könnte. Die Technik, die in dieser fast 200 Jahre alten Lithografie gezeigt wird, ist mittlerweile allgegenwärtig: vom Smartphone bis zum Satelliten, überall wird alles permanent erfasst und vermessen. Somit wirft die Unterbrechung der topografischen Vermessung in diesem Bild auch die Frage auf, wie eine vergleichbare Unterbrechung heute aussehen könnte.

Heinrich Leutemann, Road Surveying Interrupted in Singapore (c.1865‒85)

Wie führt die Lithografie, die Singapurs Kolonialgeschichte thematisiert, zur Ausstellung 2 oder 3 Tiger und ihrem Diskussionsprogramm?

Anselm Franke: Wir erweitern die ACC-Ausstellung. Für die damalige Ausstellung hatten wir einen Teil des Lithografie-Titels entlehnt, um zu zeigen, dass er für unser Verständnis der Moderne an der Schnittstelle von Kolonialismus, Technologie und Nationalität von Bedeutung ist. Betrachtet man die Geschichte durch das Objektiv eines Vermessungsinstruments, wird klar, dass dieses Instrument in mancher Hinsicht sehr mächtig ist. Dabei geht es nicht um „Kultur“ im herkömmlichen Sinn. Nach einer Vermessung ist nichts mehr wie vorher, die Welt ist nicht mehr dieselbe und auch die Kosmologie nicht. Dennoch handelt es sich nicht um eine vereinheitlichte, standardisierte Welt, wie die Modernisierung und ihr Glaube an die technologische Universalisierung uns glauben machen wollen.

Hyunjin Kim, Sie haben in Seoul an einem Projekt zu einigen problematischen Traditionen gearbeitet, die ein weiterer Aspekt dieses Ausstellungsprojekts sind. Wie sind Sie mit dem Begriff „Tradition“ umgegangen?

Hyunjin Kim: In gewisser Weise geht es auf ein ähnliches Interesse an der Messung zurück, das heißt, die Messung regionaler Modernität, eine Neubetrachtung des Modernitätsprozesses in Bezug auf die asiatische Denkweise. Ich dachte, dass der Begriff „Tradition“ damit wiederaufgegriffen und erneut zur Diskussion gestellt werden könnte. Offensichtlich ist er ja nicht nur eng mit dem Modernisierungsprozess des Westens verbunden, sondern auch mit dem Ostasiens, wo Modernisierung Verwestlichung bedeutete. Dabei wird Tradition als Ausdruck einer authentischen Kultur Asiens im orientalistischen Sinn ebenso überbetont wie sie als Ausdruck von Unzivilisiertheit, beziehungsweise Unvernunft unterdrückt wird. So sind zum Beispiel Japan und Korea strikt dem Vorbild westlicher Supermodernität gefolgt, was beide Staaten mit einer Infrastruktur ausgestattet hat und sowohl zu einer modernen Urbanisierung als auch einer Verwestlichung der Kultur geführt hat.

Auch der Nationalismus bedient sich auf verschiedene Art und Weise der Traditionen und fungiert zugleich als ihr Verstärker. Wenn wir darüber nachdenken, wie bestimmte traditionelle Gegebenheiten über mehrere Jahrtausende hinweg regional gepflegt wurden, können wir uns fragen, ob eine zweideutige Haltung gegenüber der traditionellen Kultur in wirtschaftlich fortschrittlichen Gesellschaften wie Südkorea und Japan interessanterweise als etwas reflektiert wird, das im Zuge der Verwestlichung Gestalt angenommen hat und auf die Bürger*innen umgelenkt wurde. Außerdem können wir uns ansehen, mit welcher Art von Ironie wir es hier zu tun haben und welche Art von intendierter Aussage wir unterstützen können.

Tradition ist im Alltag eher zu einer Nebensache geworden, doch in der Kunstszene, unter den Künstler*innen, Choreograf*innen und Komponist*innen, mit denen ich in den letzten Jahren in Seoul zusammengearbeitet habe, gab es ernsthafte Bemühungen, Tradition als lebendiges und für die essenzielle epistemologische Praxis der Gegenwart maßgebliches Archiv zu überdenken und neu anzugehen. Sicherlich könnte dies ein geeignetes Medium sein für die oftmals komplizierte Kollaboration zwischen Vergangenheit und Zukunft, die unsere Gegenwart so spannend macht. Es ist diese Art von Komplexität und Mehrdeutigkeit, diese Besonderheit der Tradition, über die ich nachdenken möchte, wie der Begriff der Tradition zu etwas wurde, das sich nicht einfach entfernen oder nur nostalgisch betrachten lässt.

Wie sehen es die Künstler*innen, die an der Ausstellung teilnehmen?

Anselm Franke: Ich denke, sie alle nähern sich dem Thema „Tradition” aus einer nichtessentialistischen Perspektive. Mit ihren Denkweisen und ihren Arbeiten versuchen sie, unsere Vorstellungswelt zu dekolonialisieren, verborgene Solidarität jenseits politischer Gräben ans Licht zu bringen, zum Beispiel durch Geschichten über staatliche Gewalt und Klassenkampf. Auch wollen sie sich gewissen Entscheidungen widersetzen, die uns die aktuellen geopolitischen und wirtschaftlichen Dynamiken des Kapitalismus aufzwingen, zum Beispiel nationalistische Spaltungen und bestimmte essentialistische Identitätsbegriffe.

Was schlagen sie stattdessen vor?

Anselm Franke: Eine nichtessentialistische Vorstellung von Identität. Das ist definitiv ein gemeinsamer Nenner in dieser Ausstellung. Es ist uns sehr wichtig, ein Verhältnis zur Tradition zu finden, das sich von konservativen Haltungen unterscheidet, dabei aber nicht die Bedeutung von „Tradition“ aufgibt. Es geht nicht darum, Tradition abzulehnen oder gutzuheißen, sondern um die Entwicklung eines Standpunkts, von dem aus die epistemische Gewalt des Kolonialismus zurückgewiesen wird und Geschichte als Ressource für ein neues Potenzial genutzt werden kann. Die Künstler*innen in der Ausstellung betrachten Tradition(en), um alternative Geschichten zu erzählen und den Identitätsbegriff zu erweitern. Sie versuchen, neue und kreative Wege im Umgang mit der Tradition zu finden, um der Standardisierung der Kultur entgegenzuwirken.

Hyunjin Kim: In dieser Hinsicht halte ich den Tiger für ein fantastisches Medium, denn er verkörpert diesen Wandel. In vielen Ländern Asiens ist der Tiger auch das, was zwischen Mensch und Natur, Mensch und Gott, Berg und Dorf steht. Er galt schon immer als Grenzgänger. Somit ist der Tiger eine Metapher, ein Symbol und Medium: transfigurativ, transformativ und transitorisch in einem. Die Figur des Tigers eröffnet eine Perspektive darauf, wie wir über Tradition, Moderne und die zeitgenössische Gesellschaft Asiens denken.

Es gibt viele komplexe Fragen rund um Asien und seine vielfältige Geschichte. Aber welche Möglichkeit bietet die Ausstellung, um Asien und seine Beziehung zum Westen zu verstehen?

Hyunjim Kim: In gewisser Hinsicht ist unsere Ausstellung diskursorientiert. Wir bieten an drei Wochenenden ein Programm an, das sich auf den Blick nach Asien konzentriert. Aber damit wollen wir keinen binären Standpunkt einnehmen, wie westlich versus asiatisch oder umgekehrt. Es geht vielmehr um die komplizierten, wechselseitigen Beziehungen und Einflüsse zwischen dem Westen und Asien in den vergangenen 100 Jahren und die Verinnerlichung dieser Verwicklungen. Ich halte es außerdem für wichtig, darüber nachzudenken, wie Asien das Bild von Asien innerhalb Asiens produziert und dies aus Sicht der Künstler*innen dieser Region zu betrachten.

Die Künstler*innen haben sich während ihrer Recherchen intensiv mit bekannten asiatischen Erzählungen über Nationalismus und mit einer imperialistischen Agenda auseinandergesetzt, um ein besseres Selbstverständnis aufzubauen – ein Verständnis davon, wie Asien seine eigenen Bilder und Positionen produziert. Es geht nicht nur um die aufgezwungenen alten Ideologien, wie etwa den westlichen Orientalismus. Vielmehr wollen wir die Perspektive wechseln und untersuchen, wie der Westzentrismus in Asien durch die Fokussierung auf die Modernisierung vorangetrieben wurde und wie dies heute den komplizierten nationalen Wettbewerb und Grenzkonflikte verstärkt. Dabei geht es um die schwierige Auseinandersetzung mit den verschiedenen Geschichten Ostasiens, ein Aspekt, den wir hoffentlich auch über diese Ausstellung hinaus vertiefen können.