Der griechische Gott Kairos trägt das Haar über den Stirn lang, den Hinterkopf hat er kahl geschoren. Wer ihn an dem berühmten Schopf packen will, kann das nur von vorne tun, von hinten ist er nicht mehr zu erwischen. Damit wird er zu einer herausragenden Figur der Zeit, jener flüchtigen Qualität, die wir zumeist als Dauer erleben, jedenfalls solange, bis wir gern einen Moment festhalten würden. Der norwegische Kulturhistoriker Helge Jordheim erinnerte in einem Statement anlässlich der Eröffnung von 100 Jahre Gegenwart an diesen Kairos, der veranschaulicht, dass man der Zeit immer immer nur bis zu einem gewissen Punkt habhaft werden kann.

Im Gegensatz zu Chronos, jener anderen mythologischen Figur, die zum Inbegriff der messbaren Zeit der Chronometrie wurde, ist Kairos eine Kippfigur. Jordheim sprach von einer gegenwärtigen Kultur des „Präsentismus“, die soviel wie möglich in den Moment zu packen versucht, und diesen dabei dehnbar zu machen versucht. Dabei verliert das „jetzt“ zwar tendenziell seine Intensität, aber es gewinnt andere Qualitäten.

Dieses ständige Umschlagen, diese Vielgestaltigkeit der Zeit, wurde im Rahmen der Eröffnung von 100 Jahre Gegenwart mit einem eigenen Schwerpunkt reflektiert: Der Angriff der Zeit auf das übrige Leben brachte Musiker, Wissenschaftler, Historiker und Kulturtheoretiker zusammen, und das alles unter einem Begriff, der „wie ein Schirm“ (Hans-Jörg Rheinberger) funktionierte: im Experiment kommt man der Zeit besonders eingehend auf die Spur. Wobei mit Experiment eben nicht nur die Versuchsanordnung der Naturwissenschaft gemeint ist, die „shapes of time“ erkennt, weil die Prozesse in der Materie nun einmal eine gewisse, manchmal kaum wahrnehmbar Dauer brauchen, um stattfinden zu können.

Experiment kann auch eine musikalische Improvisation oder „Comprovisation“ sein, wie das Sandeep Bhagwati nannte, der statt „shapes“ von „spectres of time“ sprach, ein vieldeutigerer Begriff. Experiment kann schließlich sogar ein weltpolitisches Manöver wie die Annexion der Krim sein, von der Helge Jordheim und die Politilogin Gwendolyn Sasse darlegten, dass sich dabei verschiedene Temporalitäten und räumliche Logiken verdichteten und durchkreuzten.

Experimentell wird die Zeit sichtbar gemacht, werden die Grundlagen der Dinge als kairologisch erschlossen, wie Evelina Domnitch und Dimitry Gelfand in einer Lecture Performance mit Musik darlegten: die gleichzeitig Beobachtung von Materie als Teilchen und Welle, ein Vorgang, bei dem sie sich auf den Physiker Yves Couder beriefen, wird in der musikalischen Form zugänglich. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, denn „high speed is slow in music“. Ein Musiker oder, wie Sandeep Bhagwati es nannte, ein „Musicker“, schafft einen „living sense of now“.

Die Möglichkeit, nicht nur die Musik und die Vorträge, sondern auch die damit einher gehenden Gespräche in einem Medienarchiv zu speichern, verleiht den Debatten eine zusätzliche Dimension. Die Dramaturgie einzelner Abende oder Veranstaltungen lässt sich nun über individuelle Aufrufe neu arrangieren, man kann chinesische Dichter wie Guo Jinniu, dessen Zeitvorstellungen unter anderem durch den Ahnenglauben, aber auch den Extremtaylorismus in Hi-Tech-Sweatshops geprägt wurde, in Beziehung setzen mit einer britisch gelassenen Politilogin und Historikerin wie Gwendolyn Sasse, die herausarbeitet, dass die Krim immer schon eine Region mit mindestens drei Zeitlichkeiten war: einer russisschen, einer tatarischen und einer ukrainischen, dazu könnte man auch noch eine osmanische oder eine griechische zählen.

Sasse verwendete den interessanten Begriff der „path dependency“, zu dem man gern den historischen Epistemologen Hans-Jörg Rheinberger befragt hätte. Denn eines kann die Zeit ja nicht: sie kann nicht vom „Pfad“ abweichen, der materiell gegeben ist, und in analoger Form schafft die Geschichte ständig Fakten, von der sie dann in ihrem weiteren Fortgang abhängig ist.

Die Verdichtung von 100 Jahren Gegenwart auf eine heterogene, vierjährige Großveranstaltung stellt wohl selber so etwas wie eine „extension of the now“ dar, die dann in ihren einzelnen Veranstaltungen dieses Prinzip von Beschleunigung und Verlangsamung, das Rheinberger als paradigmatisch für Experimente auswies, auf sich selbst anwendet. Das Experiment wird damit zum kulturellen Veranstaltungsmodell an sich. Man erwartet nicht mehr fertige, zur Aufführung reif gemachte Darbietungen, gar Premieren. Stattdessen kann, um schließlich noch einmal einen Gedanken von Helge Jordheim aufzugreifen, schon ein einzelnes Bild einen ganzen Raum enthalten, der sich dann in seinen historischen und zeitlichen Linearitäten entfalten lässt.

Der ganze, riesige, geopolitische Raum „zwischen Berlin und Beijing“ verlangt vielleicht nicht nach einer Weltkarte, sondern nach einem signifikanten Bild. – Zum Beispiel von griechischen Ruinen auf der „russischen“ Krim, so schlägt es das Künstlerkollektiv Slavs and Tatars vor. Diese Idee kann für 100 Jahre Gegenwart als eine Art Motto dienen: Das Bild als Schnitt durch die Zeit, das Simultaneität schafft und Identitäten durchkreuzt oder bestärkt. Das Bild als Medium, das die Locke nach vorn wirft. Dazu eine musickalische Comprovisation. Das „übrige Leben“ fängt den Angriff der Zeit experimentell auf und gewinnt an (Geistes-)Gegenwart.