Wenn syrische Flüchtlinge heute über das gefährliche Meer zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln setzen, um der Tyrannei Assads oder dem selbsternannten Kalifat des IS zu entkommen, stehen sie damit in einer langen Tradition.
Von 1922 bis 1924 mussten etwa eine Million osmanische Griechen von Anatolien nach Griechenland übersiedeln. Sie flohen vor dem Krieg oder wurden zwangsumgesiedelt . Umgekehrt wurden Millionen Muslime, die plötzlich innerhalb der neuen Grenzen Griechenlands lebten, zwischen 1912 und 1924 gezwungen, in die Türkei auszuwandern.
Nach dem Ersten Weltkrieg propagierte US-Präsident Wilson homogene Nationalstaaten als Heilmittel gegen multiethnische und multireligiöse Staaten wie das Osmanische Reich. Doch sein Leitbild zerstörte das Leben von Millionen Menschen. Unzählige ethnische Säuberungen, Völkermorde und Zwangsumsiedelungen wurden in seinem Namen gerechtfertigt.
Der gegenwärtige Nationalstaat gilt unter anderem auch deshalb als unausweichlich, weil er das Monopol über bestimmte Kapitel der Geschichtsschreibung innehat. Nach nationalistischer Erzählung war beispielsweise Griechenland von je her eine kultivierte, weiße, christliche Nation, die unter der Herrschaft unterdrückerischer barbarischer, muslimischer und osmanischer Sultane litt. Demnach war nicht nur die Unabhängigkeit Griechenlands im Jahr 1830 unumgänglich, sondern auch die anschließende Entmischung der muslimischen und christlichen Bevölkerungen Griechenlands und der Türkei, die eine Trennung von den „anderen“ erzielte.
Ein ähnlich nationalistisches Geschichtsmonopol besteht in der Wahrnehmung des Osmanischen Kalifats. Dieses gilt vielen als Relikt ursprünglicher muslimischer Glaubens- und Gesetzespflichten, die der säkulare türkische Nationalismus beseitig hat. Doch wie ist es dann zu erklären, dass beispielsweise indische Muslime, die niemals von Osmanen regiert wurden, auf dem Höhepunkt des europäischen Imperialismus ausgerechnet den osmanischen Kalifen ihre spirituelle Treue zusagten?
Indische Muslime fühlten sich vom Kalifat angezogen, jedoch nicht weil sie glaubten, dass dieses Nicht-Muslime unterdrückte. Vielmehr betonten sie, dass die Regierung in Istanbul Juden, Griechen und Armenier zu Ministern und Botschaftern ernannte, während das britische Empire in Indien alle höheren Verwaltungsposten weißen Christen vorbehielt. Das Kalifat wurde zum Sinnbild aufgeklärter Verhältnisse. Loyalistische indische Muslime kritisierten den Rassismus des Empires, stellten dessen Legitimität aber nicht grundsätzlich infrage.
Es liegt genau ein Jahrhundert zwischen 1914, als das Kalifat in Istanbul noch ein kaiserliches Weltbürgertum und Aufstiegsmöglichkeiten für alle symbolisierte, und 2014, als das selbsterklärte Kalifat in Mossul zum Inbegriff von Ausgrenzung, Gewalt und Unterdrückung der Minderheiten wurde. Dieses Jahrhundert des Nationalismus und der Nationalstaaten verdient eine genaue Analyse. Wir müssen herausfinden, warum die Weltgemeinschaft so lange ein politisches System der strukturellen Gewalt und Ausgrenzung begünstigt hat. Zur Stärkung pluralistischer und offener Gesellschaften gilt es, die Weltgeschichte aus dem Gefängnis nationalistischer Geschichtserzählungen zu befreien.