Ausgehend von Sigmund Freuds berühmter Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ resümiert sie die Techniken und Praktiken des Wissens, Fühlens und Erlebens, aus denen die Technosphäre gemacht ist: Sie diagnostiziert eine Renaissance der Mutmaßungen über die Zukunft (früher „Wahrsagerei“ genannt), stellt die Frage nach der Wahrheit – beziehungsweise danach, ob man sie immer aussprechen muss – und gelangt schließlich zum Wissen als Akt der Transformation, in dem Kultur und Natur nach langer Trennung wiedervereint werden.

Dünne, schwarze, aus einer Kassette gezogene Tonbandstreifen in den Ästen eines Baumes. Eine treffendere bildliche Darstellung der Technosphäre könnte es kaum geben: die Verflechtung der Natur mit menschlicher Kultur und Technologie. Doch es lässt sich darin auch die schrittweise Auflösung der Trennung von Natur und Kultur erkennen, die die europäische Moderne so lange als gegeben angesehen hat.

In seinem Aufsatz “Das Unbehagen in der Kultur“ (1929) reflektiert Sigmund Freud über diese Trennung. Freud beschreibt, dass weder das Unglück menschlicher Sterblichkeit und Schwäche noch die Übermacht der Natur oder Umweltkatastrophen abwendbar sind. Aber das Leiden, das durch soziale Beziehungen entsteht, die dritte Ursache menschlichen Unglücks, könne sich durch die Mittel der Kultur, oder Zivilisation (Kultur, Kunst, Wissenschaft, Technologie, etc.), regulieren lassen. Zivilisationen regulieren die Interaktionen zwischen den Menschen, um sie zu schützen und für eine Steigerung der Lebensqualität. Im Laufe dieses Prozesses und im Interesse dieser größeren Sicherheit ist es allerdings notwendig, dass der Mensch von seinen natürlichen Instinkten ablässt und diese verdrängt. So konnte sich die Trennung oder der Gegensatz zwischen Kultur und Natur und auch die Unterscheidung zwischen dem sogenannten Primitiven und dem Zivilisierten etablieren.

Seit dem späten 18. Jahrhundert normalisierte sich entlang dieses binären Modells in Politik, Militär, Wirtschaft, Industrie und in den sozialen Beziehungen ein Ungleichgewicht, dass mehr oder weniger bis heute anhält. Mehr oder weniger, weil die wachsende Technosphäre die Gültigkeit dieser Trennung langsam untergräbt.

Wahrsager*innen

Der Wissenschaftshistoriker Peter Galison macht in seinem Werk Aspekte kultureller Verflechtung, also von Zivilisation und Natur, sichtbar. Seine Untersuchungen gelten den Millionen Gallonen von menschgemachten radioaktiven Abfällen, die, unter riesigen Landstrichen begraben, jegliches Leben und Wachstum mit radioaktiven Emissionen verseuchen. Da Menschen zu diesen technologisch kontaminierten Zonen in der Regel keinen Zutritt haben, konnten sie sich zurückentwickeln und wieder zu natürlichen Gegenden werden. Der Bestand etwa von Krokodilen und anderen Spezies stieg wesentlich an, doch alle diese Gebiete weisen hohe  Radioaktivitätswerte auf.

Der Film Containment (2014), bei dem Peter Galison als Co-Regisseur wirkte, zeigt, wie in den USA radioaktive Krokodile in radioaktiven Flüssen neben radioaktiven Schildkröten im Schatten von radioaktiven Bäumen schwimmen und in Folge der Atomkatastrophe von Fukushima radioaktive Menschen radioaktive Kühe auf radioaktiven Wiesen hüten. So gefährlich und verheerend diese Fälle sein mögen, zeigen sie dennoch die in der Moderne so vehement abgelehnte Verstrickung von Natur und Kultur als Resultat der heutigen Technosphäre. Außerdem wird durch sie klar, dass die Zivilisation, anstatt für Sicherheit zu sorgen, Naturkatastrophen weniger kontrollierbar gemacht hat als je zuvor; schon weil wir davon ausgehen müssen, dass radioaktiver Abfall diejenigen, die ihn produzieren, um mindestens 250.000 Jahre überleben wird.

Da wir heute wissen, dass die Natur der fernen, unvorhersehbaren Zukunft vor den negativen Effekten der menschlichen Zivilisation geschützt werden muss, haben sich  Regierungen und Wissenschaftler*innen dem modellieren von Szenarien und den Prognosen zugewandt. Um Katastrophen innerhalb der nächsten 10.000 Jahre zu vermeiden, werden von ihnen Szenarien entworfen und Narrative simuliert. Sie hinterlassen Zeichen und Markierungen, die sie selbst und ihre Forschung überleben und eine ferne Zukunft vor menschgemachten Gefahren warnen sollen.

Was also bislang mit „primitiven“ Gesellschaften assoziiert wurde, was als Wahrsagerei und unheimliche, höchst unwissenschaftliche Praxis abgelehnt wurde, wird nun im Umgang mit den unkontrollierbaren, zivilisationsbedingten Bedrohungen von Natur und Leben auf der Erde als wissenschaftliche Methode eingesetzt.

Was genau an den Voraussagungen dran ist, wird sich, in diesem Fall zumindest, erst in 10.000 Jahren zeigen.

Im Szenario-Modus: Peter Galison, Sander van der Leeuw und Claire Pentecost

Wahrheit

Aber der Weg zu dieser Wahrheit lässt sich nicht nur mit den Mitteln der Zeit erfassen, auch der Klang könnte ein Weg sein. Auf dem eingangs erwähnten Tonband, das aus einer Kassette gezogen im Baum hängt, könnten Klänge aufgezeichnet sein. Lawrence Abu Hamdan zeigt dieses Bild während seines akustischen Essays „Contra Diction: Speech Against Itself“ (Kontra Artikulation: Rede Gegen Sich Selbst). Er behauptet darin, das Tonband enthalte die Stimme eines weisen Mannes, eines Philosophen, der das Konzept der Taqīya erklärt. Und dann spielt Abu Hamdan die verzerrte Stimme des Mannes ab, die er angeblich dem schwarzen Tonband entnommen hat.

Truth Measures | Lawrence Abu Hamdan: Contra Diction: Speech Against Itself (Kontra Artikulation: Rede Gegen Sich Selbst)

Taqīya – Abu Hamdan wiederholt mit eigenen Worten, was der weise Mann sagt  – ist eine auf der islamischen Jurisprudenz fußende Praxis, die es einer gläubigen Person im Falle einer drohenden Verfolgung erlaubt, gegen die eigenen religiösen Werte zu verstoßen und zum Beispiel zu lügen.

Die Taqīya zu praktizieren muss dabei nicht unbedingt eine große Lüge oder, wie in diesem Fall, eine Handlung bedeuten. Es kann sich auch auf kleine Sprechakte oder einfaches Schweigen beziehen. Als Beispiel zeigt Abu Hamdan ein Video, in dem unzählige in die Hände von ISIS geratene, vermutlich drusische Männer aus nordsyrischen Dörfern, durch wahhabitische Geistliche einer Massenkonvertierung zum Islam unterzogen werden und dabei schweigen.

Ihre Stille kann als eine Praxis von Taqīya angesehen werden. Da die Wahrheit, nach dem Prinzip von Taqīya, aber nur als maskierte Lüge fortleben kann, läuft die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, auf das „Sprechen“ selbst hinaus. Die Wahrheit könnte also beispielsweise schon in der Fähigkeit liegen, das “q” in Taqīya richtig auszusprechen.

Und in der Tat, wie Abu Hamdan richtig anmerkt, sprechen unter allen arabischsprachigen Menschen die Drusen als fast einzige in ihrem Dialekt den Buchstaben “q” noch aus. Die Mehrzahl der gesprochenen arabischen Dialekte hat es in der Aussprache durch ein “g”, “a” oder “k” ersetzt.

Das Bestehen auf die richtige Aussprache des Buchstaben “q” und die Weigerung, den eigentlichen Klang des Wortes zu verfälschen, lässt vermuten, dass die Drusen, die oft Verfolgungen ausgesetzt waren, auch in diesem Fall Taqīya praktizieren.

Gleichzeitig kann die Aussage, die „Wahrheit“ könne lediglich im gesprochenen Wort existieren, nur ein Resultat der Technosphäre sein. Gerade die Art und Weise, wie Abu Hamdan die Taqīya untersucht, verweist auf die Schnittmenge des Spirituellen und des Technischen. Bevor die Stimme des drusischen weisen Mannes/Philosophen abgespielt wird, sind andere Stimmen zu hören, die einer Stimm-Stressanalyse (VSA) und einem Lügenerkennungsprogramm unterzogen werden, um den Wahrheitsgehalt ihrer Worte herauszufinden. Technologie kann zweifelsohne messen, wie Wörter gesagt werden, doch die Wahrheit herausfinden kann sie nicht unbedingt.

Und weil sich die Technosphäre in ihren Kriterien für die Wahrheitsfindung nicht mehr auf die Inhalte des Gesagten stützt sondern auf die Art und Weise, wie es gesagt wird, liegt die Weisheit auch nicht länger im Gehalt des Wissens sondern vielmehr darin, wie es transformiert wird.

Weisheit als Akt der Transformation

Die transdisziplinäre Arbeitsgruppe FORMATIONS präsentierte im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Weisheitstechniken in der Technosphäre ein Experiment, das sich weniger der Visualisierung von Daten als ihrer Vertonung widmet. Ein Mitglied der Gruppe, der Physiker und Bioinformatiker Roman Brinzanik, stellte anhand eines visuellen Diagramms die Möglichkeit auf Heilung versus Sterberate bei einer Stichprobe von Krebspatienten dar. Hendrik Weber, ein Komponist und ebenso Mitglied der Gruppe, übertrug diese Daten in Noten und erschuf daraus ein Musikstück. Dadurch lässt sich die Wahrscheinlichkeit von Leben und Tod hören statt sehen. Die Affekte, die durch das emotionale Erleben von wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Kunst ausgelöst werden, lassen sich aus der Technosphäre heute nicht mehr wegdenken.

Unter diesen Umständen ist weder Kunst noch Wissenschaft Kompensation oder Abweichung unserer unterdrückten Natur, wie Freud es in „Das Unbehagen der Kultur“ darstellte, sondern vielmehr der Versuch eines fundierten Zuganges zu ihr – sofern sie sich im Zufall zwischen Leben und Tod zeigt.

Zusätzlich bedeutet die musikalische Interpretation der Wahrscheinlichkeit von Leben und Tod auch eine Loslösung von der modernen Grundbedingung für wissenschaftliches oder objektives Wissen – die Abgrenzung vom menschlichen Körper. Im Gegensatz dazu erinnert die Technosphäre gerade an die Verknüpfung von Natur und Kultur, macht Interdisziplinarität als Tatsache des Lebens sichtbar und entschärft dadurch diese Abgrenzung Schritt für Schritt.

Noch einmal das Bild der schwarzen Tonbandstreifen, die wie Klänge der Wahrheit vom Baum hängen: Vielleicht haben sich kurz vor oder nach der Aufnahme des Bildes ein paar Vögel in der Baumkrone niedergelassen. Gut möglich, dass ein bisschen Wahrheit vom Tonband auf die Früchte des Baumes abfärbte; Früchte, von denen die Vögel wahrscheinlich gegessen haben, wie jemand anmerkte. Und nachdem die Vögel von den Früchten der Wahrheit gegessen haben, transformieren sie diese in weises Gezwitscher.

Damit ist es aber noch nicht genug, denn die Vögel singen auch von den Früchten des Wissens und teilen sie so täglich mit uns. Möglich, dass sie dadurch die letzte Stufe ihrer Suche nach Weisheit erreichen, die im zwölften Jahrhundert begann. In dem 4.500 Zeilen langen Gedicht Die Konferenz der Vögel (1177, Fariduddin Attar) kommen Natur und Kultur wieder zusammen. Die Vögel, geleitet vom Wiedehopf, dem weisesten unter ihnen, brechen auf der Suche nach ihrem König zu einer Reise auf. Am Ende der Reise erreichen sie einen See, auf dessen spiegelnder Oberfläche sich ihre Reflektionen zeigen. Heute, in Zeiten der Technosphäre, spiegeln sich die Vögel in den schmalen Streifen des schwarzen Tonbandes, das aus einer Kassette gezogen und über einen Baum geworfen wurde, um uns die Verbindung von Kultur und Natur wieder näherzubringen, die wir so lange vernachlässigt haben.