Es gibt eine Frage, die man mir in meiner Musikerlaufbahn in fast jedem Interview stellt. Ich beantworte sie meist mit einer Gegenfrage (zumindest in Gedanken): „Fühlen Sie sich wohl damit, als Schwarzer eine Musik zu spielen, die viele Menschen mit einer konservativen weißen Kultur verbinden, wenn nicht gar einer Redneck-Kultur?“ Meine Antwort lautet immer: „Ja – und warum interessieren sich eigentlich nicht mehr Schwarze für diese Musik?“ Ich spreche hier von der Musik, die heute als „Oldtime-Musik“ bezeichnet wird.
Das ist ein spezieller akustischer nordamerikanischer Folkmusikstil, der seine Blüte in den 1920er und 1930er Jahren erlebte. Seine Wurzeln liegen sowohl im afrikanischen als auch im europäischen Kulturkreis, und er stellt nach der Musik der indigenen Völker Amerikas die vielleicht älteste Form traditioneller nordamerikanischer Musik dar. Sie wurde über alle ethnischen Grenzen hinweg gehört. Nichtkennern mag sie allerdings wie eine Vorläuferin der Countrymusik, also wie „weiße Musik“ erscheinen.
Aber was ist eigentlich „weiße Musik“? Im frühen 20. Jahrhundert kam im Zuge einiger prägender Ereignisse die Idee auf, Musik in zwei Kategorien aufzuteilen: „schwarze Musik“ und „weiße Musik“ beziehungsweise „Race Records“ und „Hillbilly Records“. Diese Entscheidung bestimmt bis heute, wie Musik gemeinhin wahrgenommen und empfunden wird. Darüber hinaus beendete sie die Ära der Oldtime-Musik.
Eines dieser prägenden Ereignisse war ein Geschäftstreffen an einem Augusttag im Jahr 1920. Der schwarze Tin-Pan-Alley-Songwriter Perry Bradford wandte sich mit einem Vorschlag an Otto Heinemann, den Manager der Plattenfirma OKeh Records. Er versuchte, Heinemann für seine neue Idee zu gewinnen: eine Platte, die, wie er meinte, ein Riesenhit werden würde. Wenn OKeh Records eine Aufnahme mit einer „schwarzen“ Sängerin und einer „schwarzen“ Jazzband im Hintergrund machen würde, so Bradford, wäre die Firma der Konkurrenz weit voraus und würde ein neues Publikum erobern: Schwarze aus den Südstaaten. Im Vorjahr hatte Bradford im Theaterviertel von Manhattan eine lose geknüpfte Revue mit dem Titel Made in Harlem inszeniert, die auf den Off-Broadway-Bühnen begeistert aufgenommen worden war. Daher war er überzeugt, dass sich eine Platte mit dem von Mamie Smith gesungenen Titelsong „Harlem Blues“ in zehntausendfacher oder noch höherer Auflage verkaufen ließe.
Heinemann gab grünes Licht für das Projekt – wenn auch mit einigen Änderungen. Sie würden Bradfords Songs aufnehmen, allerdings nicht mit Mamie Smith. Als ersten Song wählten die beiden You Can’t Keep A Good Man Down aus, den sie mit einem Standardensemble und der populären Sophie Tucker aka The Last of The Red Hot Mamas als Frontfrau aufnahmen. Tucker war bereits als „Coon Shouter“ bekannt, das heißt als weiße Entertainerin, die „schwarze“ Songs und Stile sang. Doch wie es das Schicksal wollte, stellte sich heraus, dass sie einen Exklusivvertrag mit der Aeolian Phonograph Company hatte. Da Tucker nicht mehr in Frage kam, akzeptierte Heinemann als Ersatz doch noch Bradfords erste Wahl: Mamie Smith.
Die mit dem weißen Standardensemble eingespielte Aufnahme von Mamie Smiths You Can’t Keep a Good Man Down wurde zwar kein großer Hit, aber Heinemann war dennoch zufrieden und ließ Bradford und Smith weiter zusammenarbeiten. Bradford schrieb später, die Platte habe sich nicht so gut verkauft, weil die Begleitmusiker nicht „schwarz“ gewesen seien. Er war ganz nah am Puls der Zeit und wusste, dass die schwarze Community keine Platte akzeptieren würde, die nicht dieselbe Qualität hatte wie das, was ihnen jeden Abend in den Clubs geboten wurde. Für die nächste Aufnahme wurde ihm daher eine „schwarze“ Jazzband genehmigt. Nach ein paar geringfügigen Änderungen an Harlem Blues, dem ursprünglichen Titelsong aus Made in Harlem, und der Umbenennung des Stücks in Crazy Blues stand einem sagenhaften Erfolg nichts mehr im Weg.
Mamie Smiths Crazy Blues war anders als die Coon-Songs. Sie sprach die Schwarzen an, da ihre Melodien den neuen Empfindungen entsprachen. Crazy Blues war der Weckruf für die in dieser Zeit aufkommende Musik des „New Negro“. Der Begriff wurde geprägt, als schwarze Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg mit einer neuen Erfahrung aus der alten Welt nach Amerika zurückkehrten. Die schwarze Community Nordamerikas hatte große Anstrengungen unternommen, um ihren Aufstieg aus eigener Kraft zu verwirklichen. Es war das Jahrzehnt nach Booker T. Washington, dem Lehrer, Wissenschaftler, Dozenten und Philanthropen, der sich zum Ziel gesetzt hatte, Schwarzen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Mit seinem Ansatz des separate but equal hoffte Washington, von der Mainstreamkultur unabhängige schwarze Unternehmen und Gemeinschaften zu fördern. Die aus ehemaligen Sklaven bestehenden neuen Communitys eröffneten der Unterhaltungsbranche neue Möglichkeiten. Neue, von Schwarzen gegründete Ensembles gingen auf Tournee und umwarben mit dem Slogan „The Real Thing“ ein schwarzes Publikum.
Auch die Musiker, die den damals aufkommenden „Jass“ spielten, stammten aus den großen Wandershows, die wie schwarze Zirkusse anmuteten. Diese Ensembles bestanden meist aus kleinen Bands, die die damals populären Hits spielten. Vielen der Musiker gelang der Aufstieg vom Zirkus ins Vaudeville, zum Beispiel den Mitgliedern der Jazz Hounds, die Mamie Smith bei der Aufnahme von Crazy Blues begleiteten. Die Sängerin selbst stammte zwar aus der Welt vor dem New Negro, doch mit Bradfords Crazy Blues war sie zu dessen Fackelträgerin geworden und wies ihm den Weg in die Zukunft. Alles drehte sich um den Fortschritt.
Wie die Geschichte zeigt, lag er dieses Mal richtig: Die Platte wurde ein Millionenerfolg, und die schwarze Community hatte der Musikbranche in den USA erstmals ihren Stempel aufgedrückt. Die Absatzzahlen bewiesen, dass Schwarze tatsächlich Platten kauften, die von ihren eigenen Leuten gemacht wurden. Diese Strategie sollte sich als sichere Einnahmequelle erweisen und der Musikbranche einen bisher unerschlossenen Markt eröffnen.
Eine Frage blieb allerdings offen: Wie sollte man den neuen Markt für schwarze Musik aus dem Süden nennen, dessen Zielgruppe die aufblühende schwarze Community der Great Migration war? Hier kommt der junge Unternehmer Ralph S. Peer ins Spiel. Peer war schon früh in die Musikbranche eingestiegen und hatte mitverfolgt, wie große Plattenfirmen verschiedenen, in den Vereinigten Staaten lebenden „ethnischen“ Gruppen, die ihre ursprünglichen kulturellen Gepflogenheiten größtenteils bewahrt hatten, Platten verkauften. Da die meisten dieser frühen Plattenfirmen ihren Sitz in New York hatten, fiel es ihnen nicht schwer, frisch aus ihren Heimatländern eingetroffene irische, griechische, indische oder ukrainische Sänger und Musiker zu finden, die für Aufnahmen zur Verfügung standen.
OKeh-Direktor Otto Heinemann hatte Ralph Peer als Leiter der Artists&Repertoire-Abteilung des Labels eingestellt und mit der Aufnahme von Crazy Blues betraut. Anschließend bekam Peer die Anweisung, die neue Zielgruppe im Katalog der Firma kenntlich zu machen. Zur Klassifizierung der für die schwarze Community vorgesehenen Musik wählte Peer einen Begriff, den er unter den Schwarzen in Virginia gehört hatte. In der Tradition des in Virginia geborenen und aufgewachsenen Booker T. Washington bezeichneten sich die Schwarzen dort als „The Race“. Der Begriff war weithin gebräuchlich, vor allem für Community-Mitglieder, die sich um den Aufstieg der Schwarzen verdient gemacht hatten. Booker T. selbst war als „Moses of the Race“ bekannt. Er repräsentierte die Welt jener Schwarzen, die in die Sklaverei hineingeboren worden waren und sich emanzipiert hatten – im Gegensatz zum später in Freiheit geborenen New Negro. Der Begriff „Race“ stand in der schwarzen Community zwar nicht für Modernität, wurde aber trotzdem am stärksten mit schwarzem Fortschritt verbunden. Aus diesem Grund nannte Ralph S. Peer das neue Musikgenre „Race Records“.
Diesem Schema folgte er später auch bei der Musik von armen weißen Südstaatlern. Peer hatte bereits mehrere Acts wie Fiddlin’ John Carson aufgenommen, als er während der Aufnahmen mit der Gitarrenband von Al Hopkins endlich eine Antwort auf die Frage fand, wie man diese Musik nennen sollte. Auf Peers Frage, welchen Namen er seiner Band geben wolle, entgegnete Hopkins in etwa: „Oh, wir sind doch nur ein Haufen Hillbillies aus North Carolina.“ Daraufhin nannte Peer die Gruppe Al Hopkins and His Hill Billies. Mit ihrem Erfolg etablierte sich auch das Hillbilly-Genre. Anders als bei Race Records“ traf der neue Genrebegriff „Hillbilly“ bei seiner Zielgruppe jedoch auf starke Ablehnung, da er damals ungefähr dieselbe Bedeutung hatte wie „White Trash“ heute. Wie der Coon war der Hillbilly ein einfältiger, zahnloser und barfüßiger Hinterwäldler mit Hang zum Schwarzgebrannten. Ein nicht gerade schmeichelhafter Begriff – der sich aber letztlich durchsetzen sollte. So wurde die Musik, die die Südstaaten und schließlich die gesamten USA repräsentierte, im Handumdrehen segregiert.