Was hat Sie in den 1980er Jahren zu Ihrer Seminarreihe motiviert und wie würden Sie die damaligen politischen Verhältnisse beschreiben?

Étienne Balibar: Wir begannen mit der Serie, gleich nachdem der Front National seine erste wichtige Kommunalwahl in Frankreich gewonnen hatte. Das war für die meisten von uns ein verblüffendes Ereignis, ein sehr besorgniserregendes Phänomen. Die Frage des Islam spielte damals noch keine zentrale Rolle, das Thema Migration hingegen schon, sogenannte Invasionen von Menschen aus den früheren Kolonien. Das war damals alles schon sehr rassistisch. Und ich fühlte mich theoretisch schlecht gewappnet oder unfähig, diese Themen effizient anzugehen. Immanuel, den ich 1981 bei einer Konferenz kennengelernt hatte, hatte präzisere Ideen, denn Migration hatte eine zentrale Funktion in seinem Verständnis des Weltsystems. Ich fragte ihn, was ihn derzeit am meisten interessiere, und er sagte: „Ethnizität“. Also begannen wir die Serie mit dem Thema „Rasse“. Das Seminar lief gut, sehr gut sogar. Es war stets überfüllt, und die Diskussionen waren hochinteressant. Also machten wir mit einem Seminar zur „Nation“ weiter; dann mit „Klasse“.

Immanuel Wallerstein: Die zentrale Botschaft des darauf folgenden Buches ist, dass „Rasse“, „Nation“ und „Klasse“ Kategorien sind, die nicht getrennt voneinander analysiert werden sollten. Wenn man sich mit ihnen einzeln auseinandersetzt, erkennt man nicht, dass 80 Prozent der Menschen, die Proletarier*innen sind, in Subkategorien wie „Klasse“, „Rasse“ oder „Nation“ fallen.

Étienne Balibar: So weit ich weiß, gab es in Frankreich keinen Ort, an dem diese Fragen aus einer interdisziplinären Perspektive erörtert wurden, die Historiker*innen, Anthropolog*innen, Soziolog*innen und Philosph*innen zusammenbrachte.

Als Race, Nation, Classe in Deutschland veröffentlicht wurde, erschien die Kombination von „Rasse“, „Nation“ und dann „Klasse“ einigen als problematisch, weshalb die Anordnung der Begriffe im deutschen Titel zu Rasse, Klasse, Nation verändert wurde. „Klasse“ in die Mitte zu setzen, sollte „Rasse“ – ein Unwort im Deutschen – entschärfen.

Immanuel Wallerstein: Das Konzept von „Rasse“ ist generell unvermeidbar mit der Wirklichkeit einer Hierarchie verbunden. Wenn manche Menschen als privilegierter gelten, dann will man wissen, warum, und man muss Erklärungen finden, die die Hierarchie rechtfertigen. In dem Moment, in dem man dies tut, ist man ein*e Rassist*in. Man verwendet nur einfach eine andere Terminologie. Rassismus ist schlicht die Rechtfertigung dafür, dass manche Menschen einen besseren Lebensstandard genießen als andere Menschen, hinsichtlich Wohnung, Bildung oder Einkommen – und gesellschaftlichem Respekt.

Sie deuteten an, dass es in den 1980er Jahren eine Krise der Terminologien gab. Begriffe wie „Rasse“ und „Rassismus“ veränderten sich. Betrachtet man die Situation historisch und vergleicht sie mit heute – hat sich die Vorstellung von Rassismus verändert, und wenn ja, wie?

Étienne Balibar: Wenn man beispielsweise in den USA ist und sich auf eine Stelle bewirbt, muss man manchmal ein Formular ausfüllen. Offiziell tut man das, um Gleichbehandlung sicherzustellen und Regeln durchzusetzen, die Diskriminierung verhindern sollen, aber man muss sich dafür selbst einordnen: als kaukasisch, afroamerikanisch oder hispanisch. Dieses Konzept basiert auf pseudo-biologischen Kategorien, auf Antisemitismus, der zur Schoah führte, auf der Rassenschranke in den USA, der „rassischen“ Differenz von Schwarzen oder „Negroes“, wie Afroamerikaner*innen früher genannt wurden. Letzteres war beispielsweise ein direktes Erbe der Sklaverei und „rassischer“ Hierarchien und Diskriminierungen in französischen oder britischen Kolonien.

Wenn man auf frühere Epochen zurückblickt, als eine Einteilung in Schichten in den spanischen Kolonien entstand, wird klar, dass das Wort „Rasse“ nicht immer dasselbe bedeutet hat wie heute; damals wurde es beispielsweise auf die aristokratischen „Rassen“ angewandt. Und wenn man bis in die Gegenwart weiterschaut, entsteht etwas, das manche Wissenschaftler*innen – zu denen auch ich gehöre – als „Rassismus ohne Rassen“ bezeichnen. Das bedeutet, dass Diskriminierungen nicht mehr auf denselben Kriterien basieren, sie aber immer noch existieren. Ich glaube, in der globalen Welt, in der wir heute leben, wo viele gesellschaftliche Strukturen sich verändern, wird das Konzept der „Rasse“ als solche nicht verschwinden, nur weil eine derartige Mischung an Bevölkerungen nebeneinander lebt. Es wird sich wohl eher verschärfen, insbesondere, um Antagonismen zwischen unterschiedlichen Arten von Erwerbstätigen zu schaffen.

Um es provokativ auszudrücken: Ist „Klasse“ dann der externe und bestimmende Faktor von Rassismus und Nationalismus? Oder hängt das eher von den jeweiligen historischen Umständen ab?

Étienne Balibar: Das ist es, was ich ansprechen wollte. Schauen Sie doch nur, wie Antisemitismus funktioniert: Es ist ja nicht so, dass Jüd*innen aus rassistischen Gründen als weniger Wert gelten und in einer untergeordneten Position bleiben sollen. Vielmehr ist es doch der Fall, dass sie als interne Feind*innen gelten, als Menschen, die als kapitalistische Fachleute besser sind als andere. Psychologisch gesehen werden sie also eher als eine Bedrohung auf gleicher Ebene betrachtet.

Immanuel Wallerstein: Andererseits muss man die Anziehungskraft von Politiker*innen wie Donald Trump bedenken. Die spiegelt die Situation von Menschen, die in Wirklichkeit eine Unterschicht bilden und dagegen aufbegehren; die beschließen, diejenigen, die sie unterdrücken, in Kategorien wie „Intellektuelle“ einzuordnen. Da hat man dann das Konzept von „Rasse“ als einer Methode der Untergruppe, die beschlossen hat, sich in der Hierarchie hochzuarbeiten, indem sie sich auf diese beruft.

Étienne Balibar: Dem stimme ich zu. Aber ich denke, es geht mehr darum, Feinde oder Konkurrentinnen zu unterdrücken oder gar zu eliminieren. Ich glaube, viele Gegensätze oder Unterscheidungen werden hervorgehoben, um unterschiedliche Formen des Rassismus zu strukturieren. Immanuel würde direkter auf der ökonomischen Funktion und daher auf der Artikulation von „Klasse“ bestehen. Ich bestehe mehr auf der Artikulation von „Nation“. Selbst wenn man Nazi-Deutschland nicht zum Paradigma macht, dem gemäß alles verstanden werden sollte, was in Nachkriegsdiskursen nachvollziehbarerweise die Tendenz war, muss man bedenken, dass bestimmte Formen des Rassismus generell zu Vernichtung und Eliminierung führen. Andere Formen führen dazu, dass die Strukturen und Formen der Ausbeutung und Hierarchien so stabil und unverändert bleiben wie möglich. Zwischen all dem gibt es natürlich viele Überschneidungen. Das hat uns Hannah Arendt gelehrt.

Wie würden Sie Ihr Buch heute schreiben, und würden Sie weitere Schlüsselkategorien aufnehmen?

Étienne Balibar: Ja, was beispielsweise nicht im Buch vorkommt, ist Religion. Ich glaube, damals hielt das keiner von uns, jedenfalls explizit, für wichtig.

Immanuel Wallerstein: Der neue Erzbischof von Paris, Monsieur Au Petit, behauptete in einem Interview in Le Monde, das neue Tabuwort sei Religion. Er meinte, von Gott zu sprechen sei nicht mehr allgemein akzeptiert. Und als er kürzlich zu einem weitgehend muslimischen Publikum sprach, applaudierte man ihm und sagte: „Wenigstens sprechen Sie von Gott.“ Ich finde es interessant, dass Papst Franziskus in seinem Diskurs von Geflüchteten und Migrant*innen spricht, das ist eine ganz andere Art von Katholizismus.

Wenn man an Indien, Russland, die Türki, sogar die USA oder Staaten in Europa wie Polen, Kroatien und Serbien denkt, scheint es eine unheilige Allianz zwischen rechten Kräften zu geben, rassistischen, rechten nationalistischen Bewegungen und Parteien sowie verschiedenen rechten religiösen Bewegungen. Was denken Sie, wie sich das weiter entwickeln wird?

Étienne Balibar: Historiker*innen oder Philosoph*innen würden dies vielleicht als eine Art von Regression sehen – eine Welt, in der alle möglichen Konflikte auf wirtschaftlichen Interessen, Bildung und politischen Ideologien basieren, die uns immer stärker für religiösen Hass empfänglich machen. Als etwas Rückwärtsgewandtes. Ich bin manchmal versucht zu sagen, dass dies eher eine neue Art des Nationalismus ist. Eine neue Klasse, wenn Sie so wollen; ein neuer Diskurs, der eine nationalistische Rhetorik versteckt. Oft wird der religiöse Diskurs auf eine nationalistische Art eingesetzt, um den kollektiven Körper gegen „andere“ abzugrenzen, um Ausländer*innen auszuschließen, die aus vermeintlich religiöser Perspektive zu Sündenböcken und Feinden werden; Christinnen in Pakistan, Moslems in Europa, und so weiter. Um ehrlich zu sein, bin ich mir gar nicht sicher, ob Religion heute nicht einfach nur ein Deckname für Nationalismus ist. Das bleibt eine wirklich große Frage für mich.

Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben. Es war ein Vergnügen.