Der Nationalstaat ist eine relativ junge Erfindung und zeigt doch schon viele Anzeichen der Krise. Welche Zukunft hat dieses System?
Zuerst einmal muss man sehen, dass es den Nationalstaat nicht nur in einer einzigen Form gibt. Wir stellen ihn uns oft so vor, wie er in den Zentren der Ersten Welt entstanden ist. Doch in den Kolonien verlief diese Entwicklung ganz anders. Sie war geprägt von Gewalt, Raub und Verlust des Eigentums. Gearbeitet wurde häufig unter Zwang. Oft gab es keinen Unterschied zwischen Arbeits- und Strafrecht. Zur gleichen Zeit führten Europas Nationalstaaten die Sozialversicherung ein und erließen Schutzgesetze für Arbeiter*innen. Diese beiden Formen des Nationalstaats haben ganz verschiedene Ursprünge. Und ob sie eine gemeinsame Zukunft haben, wissen wir noch nicht. Dennoch spreche ich lieber von einer Verwandlung des Nationalstaats als von seinem Niedergang oder Ende. Denn er erlebt zurzeit eine Neuausrichtung. Er unterzieht sich gewaltigen Veränderungen, die bislang kaum Beachtung finden.
Was macht die Verwandlung des Nationalstaats aus?
In erster Linie hat der Wandel mit Märkten zu tun. Besonders in der europäischen Vorstellung war der Staat bisher ein System nichtkommerzieller Beziehungen. Er gewährte den Menschen marktfreien Zugang zu Dienstleistungen wie Gesundheitsvorsorge und Bildung. Doch heute macht er genau das Gegenteil. Der Staat ist der große Treiber der Privatisierung. Trump wird Obamacare abschaffen: 29 Millionen Menschen verlieren dann ihre staatlich finanzierte Krankenversicherung und müssen sich auf dem Markt umsehen. Der Staat selbst sorgt für seine eigene Aushöhlung, wie es der globale Kapitalismus alleine kaum könnte.
Was macht das mit dem Staat?
Er wird „entförmlicht“. Der mächtigste Staat der Welt wird inzwischen über Twitter regiert, wo Trump wesentliche Teile seiner Politik verkündet. Wo bleiben da Gesetze, Regulierungen, Verfassungsgrundsätze und der Kongress? Überkommene politische Prozesse verfallen, und gerechtfertigt wird dies mit dem Streben nach Bürger*innennähe. Der Staat ist jetzt ein „Kumpel“. Trump twittert morgens, und schon ändern sich die Gesetze. Man nennt das Populismus, aber in Wirklichkeit ist es eine neue Art von politischem Handeln.
Sehen Sie andere Strukturen, die diese Verwandlung des Staats kompensieren könnten?
Ehrlich gesagt: nein. Eine Weltregierung gibt es nicht, das war eine Utopie der 1970er-Jahre. Damals wollte man Arbeiter*innen auf völkerrechtlicher Ebene zu ihrem Recht verhelfen, die auf nationaler Ebene entrechtet wurden. Aber daraus ist nichts geworden. Auch die Europäische Union konnte diese Hoffnung nicht erfüllen, denn inzwischen ist sie nur noch ein zwischenstaatliches Komitee für Neoliberalismus.
Doch die Menschen, die von den Leistungen des Staates unmittelbar abhängen, sind immer noch da. Ein Beispiel ist die Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten. Sollen wir uns auf die Gnade eines Bill Gates oder Mark Zuckerberg verlassen, um für Schutzunterkünfte zu sorgen? Nein. Aber der Staat sieht nicht nur tatenlos zu, sondern kriminalisiert die Obdachlosigkeit sogar. Er ist zum Feind und Unterdrücker derjenigen geworden, zu deren Schutz er einst gestaltet wurde.
Wie verhält sich diese Entwicklung zur Geschichte des modernen Staats?
Der Wohlfahrtsstaat wurde nicht von den Sozialisten eingeführt. Erfunden wurde er von Bismarck, der damit eine Revolution verhindern wollte. Unser Problem heute ist, dass der Kapitalismus seine Gegner nicht mehr fürchtet. Mit der Berliner Mauer stürzte nicht nur der Sozialismus, sondern auch die Sozialdemokratie. Der globale Kapitalismus ist heute ebenso furchtlos wie verantwortungslos. Das ist pure Selbstzerstörung, und zwar eine, die der Staat nach Kräften befördert.
Sind die neuen „starken Männer“ in der Politik also nur eine Posse, die die tatsächliche Aushöhlung des Staats verschleiern soll?
Mir scheint, sie sind eine Art Verschiebung der eigentlichen Widersprüche unserer Zeit. Die Menschen suchen nach sichtbaren Feinden. Sie glauben, die Aufgabe des Staates bestehe in erster Linie darin, Grenzen festzulegen und sie zu überwachen. Wenn sie Flüchtlinge sehen, haben sie den Eindruck, dass der Staat sie nicht ausreichend vor Fremden und Eindringlingen beschützt. Dass Europa diese Menschen tatsächlich braucht, spielt da keine Rolle. Und dass seine Staaten ihre Sozialversicherungen künftig nur finanzieren können, wenn 23 Millionen junge Menschen einwandern und auf dem Kontinent ein Arbeitsleben beginnen, wird nebensächlich. Denn Finanzmärkte sind unsichtbar, Flüchtlinge aber kann man sehen. Und so sind letztere die Feinde. Der neue Nationalismus nährt sich aus der Fabrikation solcher Feinde. Die eigentliche Krise entzieht sich unserer Erkenntnis.
Was bedeutet dies für die Einzelne, den Einzelnen?
In aller Welt nehmen staatliche Investitionen in Militär, Polizei und Überwachung zu – und zwar selbst in Staaten, die angeblich so arm sind, dass sie kein Geld für soziale Fürsorge mehr haben. Wir haben uns längst an diese neuen Verhältnisse gewöhnt. Wir haben hingenommen, dass aus dem Staat, einst Instrument der Hoffnung, ein Mittel zur Steuerung der Furcht geworden ist. Deshalb ist es für Linke wie mich auch so schwierig, andere Wege aufzuzeigen.
Seit den US-amerikanischen Kriegen der letzten Jahre und dem „Arabischen Frühling“ erleben wir in mehreren postkolonialen Staaten gewaltigen Aufruhr. Müssen wir uns auf noch mehr scheiternde Staaten einstellen?
Gescheiterte Staaten gibt es nicht. Es gibt nur Staaten, die zum Scheitern gebracht werden. Zum Beispiel Libyen und Syrien, die am globalen Kapitalismus und am fortgesetzten Kolonialismus scheiterten. Zum einen wegen der Rohstoffe. Zum anderen, weil der ehemalige Staatschef Gaddafi Einigkeit als Mittel gegen den globalen Kapitalismus entdeckt hatte. Als Vorsitzender der Afrikanischen Union wollte er die afrikanischen Länder zu einem einzigen Staat mit eigener Währung vereinen. Hillary Clintons Emails sagen es klar und deutlich: Die USA mussten Gaddafi vernichten, weil er eine Bedrohung für den Dollar und den Euro darstellte.
Was passiert, wenn ein Staat zerfällt? Zerfällt das System mit ihm?
Nein. Große Staaten erhalten scheiternde Staaten als Protektorate aufrecht. Wie in früheren Zeiten betrachtet Angela Merkel Griechenland als deutsches Protektorat, und es werden noch viele weitere Staaten in ähnliche Abhängigkeit geraten. Das ist nicht das Ende des Staatensystems. Aber es wird zu immer mehr und chaotischerer Gewalt führen.
Wie wird sich dadurch das Leben der Menschen ändern?
Wenn die Gemeinschaft uns als Individuen prägt und diese Gemeinschaft chaotischer, gewalttätiger, ungleicher, kolonialer und kapitalistischer wird, dann werden auch wir uns in diese Richtung verändern. Die Gesellschaft, nach der wir uns sehnen, wird es nicht geben. Wir werden Zuflucht bei einer Über-Gesellschaft suchen: in der Religion. Denn Religion ist eine sehr bequeme Art von „Gesellschaft“, in der man zwar zusammen, aber nur sehr lose miteinander verbunden ist. Man wird auf keinerlei Solidarität mit anderen verpflichtet. Und Steuern zahlt man in der Regel auch nicht. Historisch ist unser Begriff des Individuums übrigens die große Ausnahme. Den meisten Gesellschaften war die Gemeinschaft bislang wichtiger. Wir dagegen stellen alles in den Dienst der Autonomie des Einzelnen. Das wird nicht gut enden, weil das Individuum die Last unserer komplexen Gegenwart nicht allein tragen kann. Aber es gibt ja noch die Götter.