In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich schwerpunktmäßig damit, wie historisch marginalisierte Gemeinschaften in Jamaika autonome kulturelle Ausdrucksformen geschaffen haben, denen das Urheberrecht gar nicht unbedingt viel nützt. Inwiefern widerspricht es der jamaikanischen Musikpraxis?
Urheberrechtsgesetze beziehen sich vorrangig auf Werke mit einer festen Form. Sie bestehen aus einer Reihe von Regeln, die festlegen, wie mit Aufnahmen oder Kompositionen umgegangen werde kann und wie nicht. Je nach Kultur können diese Regeln mal mehr, mal weniger passend sein, weil jede Kultur ihre individuelle Produktion anders auffasst und anders damit umgeht. Was Eigentum bedeutet, ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Wenn man Teil einer kolonisierten Kultur ist und die Kolonisator*innen versuchen, diese auszulöschen, hat man vermutlich eine andere Einstellung zu kulturellem Eigentum als die Kolonisator*innen. In Jamaika gibt es Menschen – meist Nachkommen versklavter Afrikaner*innen – die aus ihrer Kultur herausgerissen wurden und deren Kultur gewaltsam ausgelöscht wurde. Sie mussten sie aus alten Erinnerungen neu erschaffen, aus dem, was sich in Körper und Geist eingeschrieben hatte und was sie in ihrer unmittelbaren Umgebung wahrnahmen, auch fremde kulturelle Werke. Die mündliche Überlieferung ist eine nützliche Überlebenstechnik, wenn Ausübung und Zugang zur eigenen Kultur verweigert werden. Man wiederholt Dinge mündlich, weil man sie nicht aufschreiben kann und sich an sie erinnern muss. Und man will gemeinsames Wissen in der Gemeinschaft schaffen, weil es die Gemeinschaft zusammenhält.
Vor der Einführung des Urheberrechts entstand auch ein großer Teil der europäischen Musiktradition aus weitergegebenem Wissen. Das deutsche Volkslied war kein feststehendes Werk. Es hatte keinen alleinigen Urheber, sondern wurde mündlich weitergegeben, geändert und interpretiert – „remixed“, sozusagen.
Das Interessante an der jamaikanischen Populärmusik ist, dass Audioaufnahmen als Teil der mündlichen Tradition zwar als feststehende Werke erscheinen mögen, tatsächlich aber Teil eines Vokabulars sind, das für weitere, neue Werke zur Verfügung steht. Bei Plattenaufnahmen in Jamaika wird häufig die Instrumentalversion eines Liedes auf die eine und seine vollständige Version auf die andere Seite gepresst. Geht diese Aufnahme dann in die Welt hinaus, ist damit die Erwartung verbunden, dass die Instrumentalversion von anderen genutzt wird. Mit diesem materiellen Aspekt der Musik geht also die Auffassung einher, dass ein Werk nicht festgelegt ist und die Leute damit interagieren werden.
Ähnlich verhält es sich mit sogenannten Dubplates, oder? Wenn Produzent*innen neue Riddims auf individuelle Acetatplatten pressen, die nicht für den Weiterverkauf, sondern zum Testen vor Live-Publikum bestimmt sind.
Genau. Der Prozess besteht darin, sich Feedback aus einer Community zu besorgen. In der historischen Tradition der jamaikanischen Musik schneidet man als Musikproduzent*in keine Dubplates, nur um sie anderen Produzent*innen vorzuspielen. Man schneidet sie, um sie bei einem Soundclash oder auf einer Streetparty zu spielen. Man spielt das Dubplate für die Gemeinschaft, und bekommt dadurch Feedback, das gehört alles zum kreativen Prozess. Diese Traditionen dienen auch dazu, die Autorität innerhalb der Communities zu bewahren, in deren Umfeld sich die Musikszene bewegt. Aber auf all das geht das Urheberrecht nicht ein. Das Copyright unterstützt diese Art der gemeinschaftlichen Autorität nicht. Es ist nicht darauf ausgerichtet, eine kollektive Autor*innenschaft anzuerkennen.
Würden Sie sagen, dass die jamaikanische Dub-Tradition auch das westliche Verständnis von Komposition infrage stellt, da sie sich bei Musikelementen aus dem Mix bedient, anstatt diesen nur zu ergänzen?
Das ist ein großartiges Beispiel dafür, Musik als work in progress zu betrachten. Im Dub ist nichts fertig. Ein großer Teil der Produzent*innen-Tätigkeit besteht im Spiel mit zeitlichen Konzepten und der Kontrolle des Sounds. In vielen kreativen Traditionen werden diese Erfahrungen – das Hinzufügen eines Echos oder Halls – nicht als Teil der Autor*innenschaft anerkannt. Das Urheberrecht umfasst traditionell nicht das, was die Person am Mischpult getan hat. So macht Dub unsere Vorstellung davon zunichte, was ein*e Autor*in, ein Werk oder sogar Originalität ist. Wie gesagt, im Dub besteht Originalität nicht unbedingt in einer komplett originalen Basslinie.
Sie erwähnten den Kolonialismus: Ist es nicht irgendwie ironisch, dass Island Records – das Plattenlabel, das wohl die größte Rolle dabei gespielt hat, die Welt mit jamaikanischer Musik bekannt zu machen – von einem weißen Briten gegründet wurde? Einem Mann, der aus einer superreichen Familie stammt, die ihren Reichtum der historischen Ausbeutung von Sklavenarbeit auf den jamaikanischen Zuckerplantagen verdankt?
Nun, das hat eine ähnliche Dynamik wie in meinem Fall: Ich bin eine weiße US-amerikanische Professorin, und ein Großteil meiner Karriere besteht aus dem Studium von Musik, die von armen Schwarzen Menschen gemacht wird. Ich habe mir damit einen Namen gemacht, Anerkennung verschafft und kann dadurch in der Welt herumreisen. Wo immer es mir möglich ist, versuche ich, die Ressourcen umzukehren, aber wir leben nach wie vor in einem weißen rassistischen System. Was wir auch tun, wir sind Teil dieses Systems, das bestimmt, worauf wir Zugriff haben. Ähnliches gilt für den Produzenten Chris Blackwell. Ich bin sicher, dass er die Musik wirklich geliebt hat. Ich bin mir auch sicher, dass sein Label Island Records für die Menschen in Jamaika Gutes getan hat, aber sicher deutlich weniger, als es hätte tun sollen. Zumindest für mich geht es also nicht um „Reinheit“. Nicht darum, ob etwas perfekt und echt ist, sondern vielmehr darum, an welcher Stelle Projekte besser gemacht werden können. Welche Mittel stellen am besten sicher, dass sich unterdrückte Menschen mehr in Richtung Autonomie und Befreiung bewegen? Wie könnte Macht gleichmäßiger verteilt werden?
Als Jamaika 1995 der Welthandelsorganisation beitrat, musste es sich auch der Weltorganisation für geistiges Eigentum [WIPO] anschließen, die sich um eine Harmonisierung internationaler Urheberrechtsgesetze bemüht. Technisch gesehen bedeutet dies, dass Musikproduzent*innen nun auch außerhalb Jamaikas versuchen könnten, für die Nutzung ihrer Musik und musikalische Anleihen Geld zu verlangen. Sind Ihnen aktuell größere Urheberrechtsstreitigkeiten in Jamaika bekannt?
Mir ist kein konkreter Fall bekannt. Bei meinen Recherchen in Jamaika habe ich auch einen Blick in die Gerichtsakten geworfen. Diese Dinge gelangen jedoch selten vor Gericht, denn die meisten Menschen, die in der Musikszene tätig sind, würden sich niemals an solche Institutionen wenden. In Jamaika sieht das Justizsystem immer noch kolonial aus – die Richter tragen nach wie vor weiße Perücken. Viele Menschen sind sehr misstrauisch gegenüber dem gesamten System, und das aus gutem Grund. Schon die eigentliche Teilhabe an diesem System ist für sie kaum denkbar. Sie würden nie davon ausgehen, dass ein Gericht der Ort ist, an dem sie etwas erreichen könnten. Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie abgezockt wurden, und sehen trotzdem keine Möglichkeit darin, damit vor Gericht zu gehen. In letzter Zeit gibt es allerdings viel Besorgnis und auch Frustration wegen eines Phänomens, das die Leute Tropical House nennen – Songs wie Justin Biebers Sorry gehören dazu. Einige Leute in Jamaika sind frustriert, dass jamaikanische Rhythmen und Referenzen international groß werden, aber kein Geld nach Jamaika oder an die Jamaikaner*innen zurückfließt und ihnen auch niemand Anerkennung dafür zollt. Tropical House macht die Tatsache vergessen, dass ein Großteil dieser Musik nur leichter Dancehall ist. Es besteht Sorge um die Anerkennung der Autor*innenschaft, aber nicht nur für einzelne Personen, sondern für Jamaika selbst, als einen Ort, der Anerkennung verdient hätte. Doch das Copyright ist derzeit nicht das richtige Instrument, um sicherzustellen, dass diese Anerkennung erfolgt. Denn Urheberrecht, rechtmäßiges Eigentum und exklusive Kontrolle sind miteinander verknüpft und werden von den Mächtigen angezogen.
Vor drei Jahren stürmte ein Tropical-House-Remix, den der deutsche Produzent Felix Jaehn für den Song Cheerleader des jamaikanischen Sängers OMI gemacht hatte, auf Platz 1 der Billboard Charts. Der damalige Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, feierte dies öffentlich als „ersten deutschen Nummer-eins-Hit-in den USA“ seit 26 Jahren, seit Blame it on the Rain von Milli Vanilli. Und das obwohl Cheerleader von Sly & Robbie in Jamaika produziert wurde.
Natürlich kann Remixing sehr kreativ sein, aber ich stimme zu, dass die Beanspruchung von kulturellem Eigentum ein Statement über das jeweilige Verhältnis zur Macht ist. Ich bin sehr misstrauisch gegenüber Leuten, die Besitzansprüche geltend machen, wenn sie bereits mit der herrschenden Macht verbunden sind. Auch in den USA vereinnahmen die Menschen Kultur gerne als amerikanische, selbst wenn Wurzeln, Referenzen und Klangbild der Musik von anderswo her stammen. Was mich aus Forschungssicht interessiert, sind folgende Fragen: An welchem Wendepunkt wird eine Kultur akzeptiert, und warum scheint es immer damit einherzugehen, den marginalisierten kolonisierten Gemeinschaften die Autorität und Ressourcen zu entziehen? Und wie könnte man das ändern? Mich würde es sehr interessieren, wie Cheerleader bei der GEMA behandelt wurde. Weil die GEMA dafür bekannt ist, dass sie das Urheberrecht auf eine überzogene Weise durchsetzt, die viele Musiker*innen hassen. Sagt auch die GEMA: Der jamaikanische Sänger muss für diesen Song bezahlt werden? Ich würde davon ausgehen, dass Jamaika im Rahmen der Berner Übereinkunft einen Vertrag hat, der die GEMA dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das Geld zu den jamaikanischen Künstler*innen gelangt. Das ist meine Vermutung, aber ich würde gern wissen, wie das genau funktioniert. Denn tatsächlich scheinen bestimmte Arten von Autor*innenschaft mehr zu zählen und andere Arten weniger.
Was wäre Ihrer Ansicht nach in einer idealen Welt die beste Gesetzgebung? Könnte es ein Urheberrecht geben, das die Beiträge des Publikums berücksichtigt – beispielsweise auch die Art und Weise, in der das Feedback von der Menge bei Streetpartys und Soundclashes den kreativen Prozess im Studio beeinflusst?
Eine interessante Frage, aber ich weiß nicht, ob ich sie beantworten kann. Meiner Ansicht nach ist das Wichtige an der jamaikanischen Musik, dass sie Situationen aufgreift, in denen die Welt sich gerade befindet. Der Grund für die Entwicklung, für die grundsätzliche Bedeutung von Streetdances, Dancehall-Traditionen und Soundsystems liegt darin, dass sie zuallererst die Gemeinschaften bedienen, die bei anderen formellen Institutionen außen vor bleiben. Sie ermöglichen es ihnen, angesichts eines Systems, das ihnen nur wenig Raum lässt, eine kulturelle Autonomie zu erschaffen. Wenn wir uns Sorgen machen über die Probleme, mit denen diese Gemeinschaften konfrontiert sind, dann liegt die Lösung für diese außerhalb des Urheberrechts, ja sogar ganz außerhalb des Gesetzes. Die Lösung besteht meines Erachtens in Entschädigungen, in der Umverteilung von Ressourcen und in Arbeitsrechten. Das sollte zuallererst passieren. Sorge macht mir auch eine mögliche Überregulierung – es sollte nicht versucht werden, für alles ein Gesetz zu entwickeln. Vielleicht sollten wir das Gesetz auf bestimmte Praktiken, Orte oder Menschen gar nicht anwenden. Es muss auch weiterhin Orte geben, an denen das Gesetz nicht interveniert.