Anton Vidokle: Als Beatriz Colomina und Mark Wigley, die Kurator*innen der Istanbul Design Biennale von 2016, mir das Thema ihrer Ausstellung mitteilten – die Frage „Sind wir menschlich“? – habe ich sofort an die Texte von Nikolai Fjodorow und anderen russischen Bio-Kosmisten mit ihren Ansichten zum unabgeschlossenen Zustand der menschlichen Evolution gedacht.
Kosmismus ist eine wenig bekannte intellektuelle und künstlerische Bewegung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Russland entstand. Grundlage ist eine Philosophie der Unsterblichkeit und körperlichen Auferstehung aller Menschen, die je gelebt haben, und zwar durch technologische Mittel. Russische Kosmisten – den Anfang machte Nikolai Fjodorow, der Bewegung gehörten zahlreiche Philosoph*innen, Schriftsteller*innen, Dichter*innen, Avantgarde-Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen und Aktivist*innen an – waren überzeugt, dass die evolutionäre Entwicklung des Menschen noch längst nicht abgeschlossen sei und dass unsere Hauptaufgabe sei, uns weiterzuentwickeln und unsere Vernunft dafür zu nutzen, unsterblich zu werden und auch alle unsere toten Vorfahr*innen ins Leben zurückzuholen. Da die Kapazitäten der Erde für diese zum Leben wiedererweckte und unsterbliche Bevölkerung nicht ausreichen würden, forderten die Kosmisten die Entwicklung der Weltraumfahrt, die Kolonisierung anderer Planeten und die Ausbreitung des Menschen im Universum.
Bio-Kosmisten plädierten für eine komplette Rekonstruktion der Gesellschaft und menschlicher Beziehungen wie auch für eine metabolische Rekonstruktion unserer biologischen Körper, so dass dieser Gliedmaßen und Organe regenerieren kann, ohne Sauerstoff auskommt und wie Pflanzen Energie direkt aus der Sonne bezieht. Zudem sollte er androgyn oder transsexuell in dem Sinne werden, dass die Notwendigkeit von unterschiedlichen Geschlechtern und sexuelle Fortpflanzung unnötig würden, sobald Unsterblichkeit und die Wiederauferstehung aller vorherigen Generationen möglich geworden sei.
Wäre die Frage „Sind wir menschlich?“ Fjodorow oder irgendeinem anderen Kosmisten gestellt worden, hätten sie wahrscheinlich „nein“ gesagt, denn wir haben unsere Konstruktion noch nicht perfektioniert und haben auch noch nicht den Tod überwunden.
Arseny Zhilyaev: Diese Frage heute zu stellen ist ähnlich wie zu fragen, ob wir immer noch im Kapitalismus leben, oder in etwas Schrecklicherem. Wenn wir die Begriffe des 19. Jahrhunderts verwenden, ist es in beiden Fällen möglich zu sagen: „Nein, wir sind nicht menschlich in den Begriffen von Fjodorow, und wir leben auch nicht im Kapitalismus, wie er von Marx beschrieben wurde.“ Ein beliebtes Argument ist, Menschen als von Natur aus verrückte Kreaturen zu beschreiben, die dem Rest des Universums mit Gewalt ihre Identität und ihre Beschränkungen aufzwingen wollen. Deshalb behauptet man, es sei besser für uns, gänzlich nicht-menschliche Denkweisen zu finden und nicht-menschlich zu agieren. Mit anderen Worten: Das Argument besteht darauf, dass wir versuchen, möglichst gar nicht menschlich zu sein. Aber in meinen Augen ist das eine wirklich schwierige Behauptung. Ganz zu schweigen von der Umsetzung einer solchen Ansicht. Es gibt einen interessanten Fall, auch wieder aus dem 19. Jahrhundert, der russische revolutionäre Aktivist*innen von der Bewegung Narodnaja Volja (Wille des Volkes) betrifft, deren große Mehrheit aus wohlhabenden, aristokratischen Familien stammte und die hochgebildet waren, aber trotzdem im Interesse von Bäuer*innen und Arbeiter*innen handeln wollten. Die Anführer*innen der Bewegung rieten ihren Mitgliedern „zum Volk zu gehen“, um die revolutionären Ideen der Befreiung zu propagieren. Dies bedeutete, als Mitglieder der gewöhnlichen, unterdrückten Klassen zu leben und zu arbeiten. Ihre Versuche scheiterten komplett. Die Bäuer*innen trauten ihnen nicht und halfen schließlich der Polizei dabei, sie festzunehmen. Wenn Künstler*innen heutzutage versuchen, unterdrückten Pflanzen eine Stimme zu geben oder als nicht-menschliche Akteur*innen zu agieren, sind sie in meinen Augen genauso naiv wie diese Aktivist*innen des 19. Jahrhunderts.
Ich glaube, es liegt nur in unserer Natur als denkende Tiere, mit all unseren Begrenzungen, das zu erreichen, was man einen „echten Willen“ und eine universelle Stimme nennen könnte. Das bedeutet nicht, dass wir den menschlichen Aberglauben aufrechterhalten sollten, im Gegenteil: Wir sollten bewusst versuchen, die natürlichen, sozialen, sexuellen und anderen Beschränkungen unser Spezies zu überwinden. Fjodorow war einer der ersten Denker, die dafür plädierten. Für mich ist die Hauptfrage, wer Verantwortung für diesen Übergang übernimmt, für diese permanente Überwindung? Für staatliche Geheimdienste und Konzerne sehen wir Menschen wahrscheinlich wie Zimmerpflanzen aus, die kultiviert und reguliert werden müssen. Wegen dieser Realität möchte ich gern zu Fjodorow zurückkehren und persönlichere, oder besser gesagt: wirklich menschliche Zugänge zu unseren Transformationen entwickeln.
Für mich ist eine der interessantesten Fragen für zeitgenössische Künstler*innen, die mit russischem Kosmismus arbeiten, oder für diejenigen, die einen nicht-menschlichen Zustand in der Kunst herstellen wollen: Willst du persönlich unsterblich sein? Denn für mich ist der Tod, als ein bewusstes Ereignis, einer der entscheidendsten Punkte des Menschseins. Können Sie sich, ganz persönlich, Ihr künstlerisches Leben ohne den Tod oder das Altern vorstellen?
Anton Vidokle: […] Ich denke, alles hängt davon ab, was wir mit künstlerischem Leben meinen, wie wir uns das vorstellen. Einerseits ist das Bild eines zombifizierten Künstlers, der für alle Ewigkeit trashige Abstraktionen malt, ziemlich langweilig. Fjodorow allerdings hatte ein viel komplexeres Konzept von Kunst im Sinn als einfach nur die Produktion von ästhetischen oder konzeptuellen Objekten. Die Art von Eschatologie, der Lebenshorizont, den er in seinen Texten skizziert, scheint anzudeuten, dass es das ultimate Kunstwerk ist, auf eine Spiritualisierung unbelebter Materie hinzuarbeiten: eine Art riesiges animistisches Projekt, die Materie, aus der das Universum besteht, zu lehren, wahrzunehmen, zu fühlen und zu denken. Fjodorow war überzeugt, dass die außergewöhnlichste und bedeutendste Eigenschaft des Menschen unsere Fähigkeit zu fühlen ist, zu verstehen, zu denken und bewusst zu sein. Und dass diese Fähigkeit mit all der Materie geteilt werden müsse, die sie noch nicht besitzt. Ich bin mir nicht sicher, wo dieser Wunsch, die Welt zu beleben, herkommt, aber Fjodorow steht damit keineswegs allein. In der gesamten geografischen Region von Japan bis nach Skandinavien gibt es eine Art schamanistische Sensibilität, und Russland ist Teil dieser Tradition. Und Fjodorow, obwohl er ein tiefgläubiger orthodoxer Christ war, glaubte, es sei unsere evolutionäre Verantwortung, den Kosmos Vernunft zu lehren, und dass genau diese Aktivität das echte Kunstwerk sei. Wie lang würde eine solche Arbeit dauern? Wahrscheinlich eine Ewigkeit… Aus dieser Perspektive wird Unsterblichkeit zu einer Notwendigkeit, und wir sollten sofort beginnen, daran zu arbeiten.
Arseny Zhilyaev: Das klingt ein bisschen nach New Age…
Anton Vidokle: Ja, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir von einer ganz anderen Sensibilität sprechen, die am Ende des Zarenreiches entstand, sich durch die kommunistische Revolution und etliche Kriege zieht und unter anderem tatsächlich in einer bemannten Raumfahrt mündet. Es ist nicht, wie wenn man einen Stein als Haustier hat und auf Peyote halluziniert; es ist eine Art materialistisches Delirium, das sowohl ultrarational als auch vollkommen fantastisch ist. […]
Arseny Zhilyaev: […] Ich habe mal die Ideen des Russischen Kosmismus von der Auferstehung mit einem Künstlerfreund besprochen, der sich sehr gegen sie gewehrt hat: „Warum sollte mir die Idee gefallen, mein Vater könnte auferstehen?“ fragte er. „An Auferstehung für alle ist nichts Gutes. Manchmal ist der Tod besser, als zu leben.“ Hier ist ein weiteres Problem mit Fjodorows Vision: Sollten wir Verbrecher wie Hitler wieder zum Leben erwecken? Oder Menschen, die einfach des Lebens müde waren und vielleicht gar nicht ins Leben zurückkehren wollen? Und wie wäre es für altmodische Menschen, wenn sie andere aus einer viel fortgeschritteneren Spezies mit immateriellen oder transformierten Körpern treffen? Würden solche älteren Menschen noch einen Sinn und Zweck in ihrem wiederauferstandenen Leben sehen?
Anton Vidokle: Das ist ein wirklich interessanter Punkt. Man kann sich viele Probleme vorstellen, wenn man ältere wieder zum Leben erweckte Generationen und ihre späteren, höher entwickelten Mitmenschen miteinander vermischt. […] Ich glaube, eine Lösung für dieses Problem könnte sein, was Sie kürzlich in Moskau vorgeschlagen haben – dass diverse Planeten wie historische Zimmer in Museen eingerichtet werden; es könnte einen Planeten für Menschen aus dem 12. Jahrhundert geben, einen weiteren für Menschen aus der Ära des frühen Kapitalismus, einen Steinzeitplaneten und so weiter… Ein Bevölkerungsmanagementsystem, in dem die Sensibilitäten von Menschen nicht von Sensibilitäten überrollt werden, die ihnen unverständlich sind. Die ganze Sache könnte von künstlicher Intelligenz gemanaget werden, und alle wären glücklich. Es könnte aber auch ein absoluter Albtraum sein… Als Sie diese Art von Organisation beschrieben haben, war mein erster Gedanke, dass wir vielleicht schon jetzt in diesem System leben und dass die Erde nur ein großes historisches Zimmer innerhalb eines Museums ist, das so groß wie das Universum ist.
Arseny Zhilyaev: Ja, es ist möglich, sich eine künstliche Intelligenz vorzustellen, die die universelle Lebensentwicklung steuert, aber wozu bräuchte sie die Menschen? [… Und] nicht jeder will ein Objekt in einem Museum sein. Boris Groys spricht über den Russischen Kosmismus als ein kuratorisches Projekt. Wenn man nicht alle gleichzeitig wiederauferstehen lassen kann, muss man auswählen. Im Endeffekt wird man gezwungen, Kurator*in zu sein. […]
Anton Vidokle: Ich denke, Künstler*innen sind zumindest potenziell unsterblich. Ähnlich wie König*innen, von denen es heißt, sie hätten sowohl einen physischen Körper, der altern, krank werden und sterben kann, als auch einen politischen, der unzerstörbar und unsterblich ist (Der König ist tot, lang lebe der König!), können wahrscheinlich auch Künstler*innen zwei Körper haben. In diesem Sinne könnte man sagen, Duchamp oder Dostojewski sind heute so lebendig, wie sie es jemals waren, denn ihre lebendige Präsenz geht über den Tod ihrer physischen Körper hinaus. Auf diese Art ist ein künstlerischer Prozess immer ein Versuch, physische, mentale oder zeitliche Grenzen zu überwinden; ein Versuch, der meistens scheitert, aber immer das Potenzial hat, den Tod zu überwinden.
Das ist eigentlich nicht die Art von Unsterblichkeit, die Fjodorow im Sinn hatte. Aber ich denke, dieses Potenzial der Unsterblichkeit durch Kunst ist genau einer der Gründe, warum die Kunst eine so zentrale Rolle in seinem Denken spielt und warum er sich in seinen Schriften so häufig auf die Kunst bezieht, mehr als jeder andere mir bekannte Philosoph. Fast alles, was wir über die Vergangenheit wissen, haben wir durch erhaltene Artefakte erfahren: literarische Werke, Gedichte, Skulpturen, Zeichnungen und Malerei, dekorative Objekte, architektonische Zeugnisse. Unvermeidbarerweise bildet dies den Bestand der meisten Museen. Fjodorows universelles Museum, in dem seiner Vorstellung nach die Auferstehung stattfinden wird, ist einfach eine radikalisierte, erweiterte und inklusivere Version der Museen, die wir heute haben.
Was einem universellen Museum heute am nächsten kommt – also ein Museum, das alles enthält – ist das Internet, das ja auch ein enormer Datensammler ist und für alles von Kommerz bis hin zur Regierungsüberwachung eingesetzt wird. Aus dieser Perspektive werden Unsterblichkeit oder Auferstehung durch ein riesiges Überwachungssystem möglich. Das klingt unheimlich. Aber ich glaube auch, Unterdrückungsstrukturen wie Geheimdienst- und Sicherheitsorganisationen wissen oft nicht um die Langzeitauswirkungen dessen, was sie tun. Die CIA dachte, sie würde der Sowjetunion Widerstand leisten, indem sie religiöse Schulen in Afghanistan finanzierte, aber stattdessen trugen sie zur Entstehung des militanten Islam bei, der später Amerika angriff. Die NSA mag denken, sie würde Daten sammeln, um den Terrorismus zu bekämpfen oder eine Bevölkerung zu kontrollieren, aber später könnte sich herausstellen, dass sie tatsächlich ein aufwändiges Museumsarchiv aufgebaut hat, das dazu verwendet wird, Menschen zur Auferstehung zu verhelfen.
Arseny Zhilyaev: Und was bedeutet dies in deinen Augen für Projekte von Künstler*innen?
Anton Vidokle: [… Die Dauer eines jeden künstlerischen Projekts mag sehr kurz erscheinen]. Es ist für mich persönlich schwierig, mir vorzustellen, an etwas länger als fünf oder zehn Jahre zu arbeiten. Bis zu einem gewissen Grad muss das die Komplexität der Projekte, die Leute angehen, beeinflussen. Es wäre interessant, sich vorzustellen, wie eine Arbeit, für die man hundert Jahre braucht, wohl wäre – nicht nur, wie sie aussehen würde, sondern wie ihr konzeptueller Umfang. […] Wenn Sie einem Kunstwerk ein paar hundert Jahre widmen könnten, was würden Sie machen?
Arseny Zhilyaev: Ich kann mir ein so langes Projekt fast nicht vorstellen. Meine Praxis konzentriert sich auf die Herstellung experimenteller Modelle, die mögliche politische, ästhetische und historische Szenarien über die Erfahrung der Betrachter*innen testet. Jedes neue Projekt hat seine eigene visuelle und konzeptuelle Sprache; sie unterscheiden sich komplett voneinander. […]
Aber dann denke ich, Zeit ist nur der Effekt der Spezifizität unserer universellen Umgebung. Es gibt eine neue, von der australischen Wissenschaftlerin Joan Vaccaro propagierte Theorie, die über den Ursprung der Zeit spekuliert. Und ihrer Forschung zufolge „zwingt Verstoß T, oder ein Verstoß der Symmetrie der Zeitumkehr (T), das Universum und uns, in die Zukunft“. Ein Universum ohne diesen Verstoß sollte in Raum und Zeit symmetrisch sein, was bedeutet, ohne zeitlichen Fluss, ohne Kohärenz. In einer solchen Welt kann Zeit auf dieselbe Art verwendet werden wie Raum. Jedes Ding kann nur an einem Ort und zu einer Zeit sein. Wenn man dieses Modell auf die Kunstgeschichte anwenden würde, würde man die Forderung der historischen Avantgarde nach der radikalen Unabhängigkeit von Kunstwerken von früheren Formen und sogar von der Kunstgeschichte überhaupt erfüllen. Eine Forderung, die bewusst oder unbewusst die Produktion selbst der radikalsten antinarrativen Experimente begrenzen würde. Wenn Wissenschaftler*innen solche Modelle entwickeln können, warum begrenzen wir als Künstler*innen unsere Fantasie auf die historisch bekannte Welt der Kunst? […]
Aber ich denke, es besteht eine ernsthafte Spannung zwischen der Existenz in sowohl einem Raum als auch einer Zeit, die die Menschheit zwingt, in ihrer Entwicklung voranzugehen, und der Möglichkeit, dass wir einfach ermüden und aufgeben könnten. In diesem Falle kann sogar das kurze Leben von zeitgenössischen Kunstprojekten zu lang sein. Was ist Ihnen lieber? Alle Zeit des Universums zu haben, um alles zu machen, oder eine begrenzte Zeit, um nichts zu machen?
Anton Vidokle: Mir ist Kunst ohne Tod am liebsten…