In einer Welt, die um Mobilität einen Kult treibt, ist Migration weiterhin Anlass hitziger Debatten und steht nicht selten im Zentrum tödlicher Konflikte. Flüchtende und Migrant*innen ertrinken im Mittelmeer oder sitzen entlang der „Balkanroute“ fest. Mord und Entführung, Ausbeutung, Vergewaltigung und Versklavung gehören zum Alltag auf den Routen der Migration, die von Zentralamerika über Mexiko bis zur befestigten Grenze der Vereinigten Staaten führen. All das sind nur einige Bilder mit hoher Symbolkraft dafür, wie hart und brutal derzeit in der Welt um das Sichern und Überschreiten von Grenzen gekämpft wird. Man könnte etliche weitere Schauplätze anführen, die nicht an der Bruchlinie zwischen dem „globalen Süden“ und dem „globalen Norden“ liegen.
Im Mittelpunkt dieser Konflikte stehen Menschen, die sich aufgemacht haben, eine Grenze zu überwinden. Doch auch jenseits der Grenzen ergibt sich kein friedlicheres Bild, dort, wo Migrant*innen bereits angekommen und sesshaft geworden sind. Das Gespenst des Rassismus verfolgt die Eingewanderten auf Schritt und Tritt. Die so genannte „Islamfeindlichkeit“ verstärkt vermeintliche „Zivilisationsgrenzen“ kolonialgeschichtlichen Ursprungs. Und eine Dynamik innerstädtischer Segregation begrenzt die räumliche Bewegungsfreiheit und die Aufstiegschancen der Betroffenen. Über Generationen werden sie das Stigma einer angeblichen kulturell bedingten Weigerung, sich zu „integrieren“, nicht los.
„Manche hatten in den letzten Jahren mit einer ,positiven‘ Wendung von Begriffen wie ,Monster‘ und ,Monstrosität‘ gespielt, um die Fragwürdigkeit der nationalen ,Norm‘ deutlich zu machen. Inzwischen werden aber Migrant*innen umgekehrt und ganz unironisch von denjenigen zu Monstern abgestempelt, die sie aus dem Raum der Nation entfernen wollen.“
Migration ist seit Jahrzehnten eine Triebkraft der „Globalisierung von unten“ und stellt die nationalstaatliche Weltordnung in Frage. Eine Herausforderung, die bisher nicht gerade wohlwollend angenommen wurde. Doch inzwischen hat der nationalistisch motivierte Widerstand gegen die Einwanderung in Europa und den USA eine neue Größenordnung erreicht. Er war wesentlich am Erstarken der neuen und alten Rechten beteiligt.
Manche hatten in den letzten Jahren nach dem Beispiel von Gilles Deleuze und Félix Guattari mit einer „positiven“ Wendung von Begriffen wie „Monster“ und „Monstrosität“ gespielt, um die Fragwürdigkeit der nationalen „Norm“ deutlich zu machen. Inzwischen sind wir aber so weit, dass Migrant*innen umgekehrt und ganz unironisch von denjenigen zu Monstern abgestempelt werden, die sie aus dem Raum der Nation entfernen wollen.
Selbstverständlich überwinden Migrant*innen auch weiterhin Hindernisse und Grenzen, wenngleich unter zunehmender Gefahr. Einmal im Zielland angekommen, knüpfen sie Netzwerke und entwickeln kulturelle, gesellschaftliche und politische Strategien gegen Rassismus und Ausgrenzung. Dennoch treffen die Schläge der nationalistischen Milieus mittlerweile nicht nur das Leben derjenigen, die noch unterwegs sind, sondern auch diejenigen, die sich bereits angesiedelt haben.
Günstige Bedingungen für diese nationale Reaktion hat die Finanzkrise von 2007/2008 geschaffen. Der Zusammenhang ist kaum zu übersehen, ganz gleich, ob man Faktoren wie den Terrorismus oder das Wiederaufleben der Religion betrachtet. Das legt nahe, die Migration aus dem Gesichtspunkt der „Arbeitskräftemobilität“ und ihrer Bedeutung für den Kapitalismus zu betrachten. Entgegen der überlieferten Annahme, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer*innen sei eine unproblematische Bedingung für das Aufkommen des Kapitalismus gewesen, war die Mobilität der Arbeitskräfte stets umstritten.
Beginnend mit der „Middle Passage“, dem transatlantischen Sklavenhandel im 18. Jahrhundert, war die Mobilität der Arbeitskraft geprägt von Zwang und Gewalt einerseits und vom Widerstand der Versklavten oder vorgeblich „freien“ Arbeitsmigrant*innen andererseits. Das Verwischen oder Aufheben der Grenzen zwischen „erzwungener“ und „freiwilliger“ Migration war kennzeichnend für die wichtigsten Etappen in der Geschichte der Migration unter dem Kapitalismus.
Betrachten wir Arbeitsmigration als Konfliktfeld, so ergibt sich daraus zweierlei: Erstens eine Politisierung von Mobilität und damit einhergehend Momente des Widerstand, des Kampfes, der Autonomie, aber auch der Gewalt und Enteignung. Und zweitens, dass der Kapitalismus die Mobilität von Arbeitskraft in Vergangenheit und Gegenwart stets hoch bewertet hat, sie zugleich aber auch vielfältiger, historisch wandelbarer Disziplinierung und Begrenzung unterwarf.
Zudem zeigt sich, dass Staat und Nation in diesem Prozess eine große Rolle gespielt haben. „Nationalistisch“ gesinnter Widerstand gegen Migration war mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert eine wiederkehrende Begleiterscheinung des Kapitalismus. Eines von vielen Beispielen dafür sind die „nativistischen“ Proteste gegen die Einwanderung aus Übersee in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals kamen „ungelernte“ Arbeiter*innen aus Süd- und Mitteleuropa ins Land, die große Bedeutung für den Prozess der Massenindustrialisierung hatten. Dieselben Einwanderer beteiligten sich später maßgeblich an Arbeitskämpfen und am Entstehen der revolutionären Gewerkschaftsbewegung „Industrial Workers of the World“. Der Konflikt zwischen nativistischem Widerstand gegen Migrant*innen und dem Bedarf des Kapitals an mobilen Arbeitskräften verstärkten den Druck auf erstere und verbreiteten ein Gefühl der Unsicherheit.
„Man könnte sagen, dass der heutige Umgang mit Migration von einer ,logistischen‘ Fantasievorstellung geprägt ist, die in Ausdrücken wie ,just-in-time‘ oder ,bedarfsgerecht‘ zur Geltung kommt.“
In den vergangenen Jahrzehnten wurden solche Konflikte unter den Bedingungen zunehmender Flexibilisierung der Arbeitskraft und der Wirtschaft allgemein ausgetragen. Migrant*innen spielen dabei weiterhin eine Schlüsselrolle, weil ihre Arbeitskraft in vielen Branchen, von der Bauindustrie bis hin zur Pflege, weiterhin unverzichtbar ist. Neu ist, dass sich Wanderrouten und Migrationsverläufe heute komplexer gestalten und dass sich auch die Zusammensetzung der Migrant*innengesellschaften dramatisch verändert, weil immer mehr Frauen aus- bzw. einwandern. Patriarchale Strukturen und Geschlechterrollen geraten damit unter Veränderungsdruck.
In der Folge veränderten sich auch die Techniken zur Steurung von Migration und die Verfahren zur Anwerbung von Migrant*innen, „Risiken“ und „Fertigkeiten“ wurden zu den maßgeblichen Kriterien. Die Entwicklung und Anwendung solcher Verfahren verschränkt sich mit dem Ausbau der sicherheitsstaatlichen Abschottung und führt insgesamt zur Entstehung neuer Grenzregime.
Im kritischen Begriff des Grenzregimes kommt zum Ausdruck, dass immer mehr „wirtschaftliche“ und „humanitäre“ Akteure auf das staatliche Grenzmanagement Einfluss nehmen und dieses damit vielfältigen Logiken unterwerfen. Man könnte sagen, dass der heutige Umgang mit Migration von einer „logistischen“ Fantasievorstellung geprägt ist, die in Ausdrücken wie „just-in-time“ oder „bedarfsgerecht“ zur Geltung kommt. Dabei ist klar, dass Migration eine eigene Dynamik hat und sich dieser Erwartungshaltung und Denkweise kaum unterwerfen wird. Hinter dem, was ich „logistische“ Fantasievorstellung nenne, steht aber nicht zuletzt die verbreitete Einsicht unter Politiker*innen und Wirtschaftseliten, dass Migration für das Funktionieren des zeitgenössischen flexiblen Kapitalismus weiterhin notwendig ist. Dieser Konsens arbeitet gegen die Tendenz zur nationalen Abschottung, deren Zeug*innen wir derzeit sind.
Bedenkt man die so verstandene „Notwendigkeit“, aber auch die Entschlossenheit derer, die noch unterwegs oder schon angekommen sind, so ergibt sich daraus, dass weltweite Migration ein bestimmendes Merkmal unserer Zeit bleiben wird. Die Überlebens- und Behauptungskämpfe der Migrant*innen sowie die politischen Auseinandersetzungen über Migration werden entscheidend sein für das Entstehen neuer Arten des Zusammenlebens. Ein Zusammenleben, das über Staat und Nation und beider Doppelbindung an das Kapital hinausgehen könnte.