Gerade habe ich ein Buch von Tupoka Ogette ausgelesen. Es ist vor Kurzem erschienen. exit RACISM heißt die Anleitung der Berliner Anti-Rassismus-Trainerin, die seit Jahren in Kitas, Schulen und Management-Seminaren über rassistische Strukturen in Deutschland aufklärt. In einer Episode ihres Buches erzählt sie von einem schwarzen deutschen Jungen, der mit seinem Vater in die USA reist. Beim Anblick eines schwarzen Polizisten sieht er den Vater an und fragt unsicher: „Darf der das denn?“ Was soll er nicht dürfen: Schwarz sein? Ein schwarzer Polizist sein? Weißen Verbrecher*innen Handschellen anlegen? Die pure Vorstellung scheint das Gesellschaftsbild des kleinen Jungen auf den Kopf zu stellen, und was das über sein Selbstbild aussagt, ist erschütternd. Ogette liefert etliche Beispiele von Kindern, die mit ihren transkulturellen Biografien noch immer keinen rechten Platz im deutschen Alltag finden. Ist das nun also die Realität, in der wir uns nach intensiver Auseinandersetzung mit unserer diversen Gesellschaft befinden? Darüber, und über das Thema Migration, sprechen Jugendliche aus zehn Berliner Schulen an diesem Vormittag auf dem Kongress Neue Expert*innen! im Haus der Kulturen der Welt.
„Ach, gerade für die Jüngsten ist das doch eigentlich kein Thema mehr“, sagt ein Erwachsener aus dem Publikum. „Es interessiert sich doch heute kaum noch ein Kind dafür, ob seine Freunde braune Haut haben oder Ali heißen.“ Happyland nennt Tupoka Ogette den Ort, an dem eine solche Aussage uneingeschränkt wahr wäre. Und auch die Jugendlichen im Publikum widersprechen. Seit den Projekttagen, die sie mit Berliner Künstler*innen zum Thema Migration gestaltet haben, sehen die Schüler*innen das Konfliktpotenzial untereinander viel deutlicher als zuvor. Aber eben auch Gemeinsamkeiten. Einträchtig lümmeln sie sich auf den Sitzkissen im HKW-Foyer, sitzen im großen Saal zwischen Lehrer*innen und Künstler*innen und tauschen sich über Vorurteile, ungleiche Chancen und den gemeinsamen Alltag aus.
Neue Expert*innen! nennt sie das HKW, weil sie ihre Umwelt unter ganz anderen Vorzeichen erleben als noch Jugendliche vor zehn Jahren. Flucht und Migration sind heute omnipräsente Themen. Die meisten Kinder, die in Großstädten aufwachsen, haben Freund*innen mit anderen ethnischen oder religiösen Hintergründen, Multilingualität gehört für viele zum Alltag. Insbesondere für Schüler*innen der zweisprachigen Europa-Schulen ist eine eigene familiäre Migrationsgeschichte eine Selbstverständlichkeit.
Jasmin Ibrahim ist trotzdem aufgeregt, als sie auf das Podium tritt. Die junge Frau spricht nicht zum ersten Mal hier. Seit einer Weile gehört sie zum Leitungsteam des Jugendtheaterbüros Berlin. Etwas ist trotzdem von ihrer Schüchternheit geblieben. „Ich war früher noch viel unsicherer“, erzählt sie den Jugendlichen im Saal. „Immer das so genannte Migrantenkind, immer die, über die alle schon eine Meinung hatten.“ Sie erzählt, wie es sich anfühlt, in Deutschland geboren und doch nie ganz Teil der Gesellschaft zu sein. Wie sehr die Wahrnehmung anderer sie noch immer ausgrenze. Aber auch, dass sie mittlerweile etwas dagegen unternimmt. „Ihr müsst nicht alles hinnehmen“, ruft sie ins Publikum. „Wir wollen nicht mehr als Kanaken gecastet werden, an der Supermarktkasse arbeiten, putzen. Wir wollen Faust spielen, auf der großen Bühne.“ Tosender Applaus.
Zaghaft sagt eine Schülerin aus dem Publikum, dass sie bis zum Expert*innen-Projekt gar nicht wusste, was einige ihrer Mitschüler*innen täglich an Rassismus-Erfahrungen einstecken. „Stimmt“, „Ich auch nicht“, „Ja, krass“, brummelt es aus anderen Reihen. Gerade diejenigen, die bislang ihr gesamtes Leben in Berlin und in einem weißen homogenen Umfeld verbracht haben, scheint der Begriff Migration erstmals selbst anzugehen. Auf einmal ist er nicht mehr mit exotischer Ferne, Kriegen und Fluchtrouten oder der Vorstellung vom Getto verknüpft. Ob nun junge Geflüchtete, türkischstämmige Berliner*innen in vierter Generation oder Nachkommen der Hugenott*innen – irgendwo kommt die Familie immer her. „Migration ist ein natürlicher Prozess“, das finden mittlerweile viele im Saal. Und diskutieren die negative Konnotation des Wortes, die sich fast unbemerkt auf all jene Menschen übertragen hat, die kulturell nicht ins Raster zu passen scheinen.
Die Regisseurin Constanze Fischbeck hat die Auseinandersetzung im Film gesucht. Für Zehn Minuten Bahnhof Zoo hat sie die Jugendlichen des Schiller-Gymnasiums und einer Willkommensklasse rund um den Berliner Bahnhof filmen lassen. Das Ergebnis ist aufschlussreich. Die meisten Gymnasiast*innen nehmen vor allem die Unannehmlichkeiten des Ortes wahr, den Dreck, die Bettler*innen, den heruntergekommenen Zustand. Für die Willkommensschüler*innen dagegen ist es ein Ort der Möglichkeiten – mit Cafés, in denen man unterkommen kann, kostenloses Internet findet etc.
Auch die „Spiegel(üb)ungen“, die Branca Pavlovic mit einer anderen Gruppe macht, funktionieren vor allem nonverbal. Die Choreografin spricht in ihrem Projekt gar nicht erst über Migration, sondern bringt die Jugendlichen einander über Bewegungen näher. In Zweierpaaren aus Regel- und Willkommensschüler*innen untersuchen sie Haltung, Gestik und Mimik des anderen und lernen ohne viele Worte etwas über ihr Gegenüber. Im direkten Gespräch prallen die unterschiedlichen Meinungen zum Teil auch noch recht ungefiltert aufeinander. „Viele der Regelschüler*innen“, so die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Assad, „wiederholen das, was sie im Fernsehen und Internet hören, vor allem die vielfach formulierte Forderung nach Sicherheit und Anpassung“, nach kulturellen Verhaltensänderungen im Sinne der Mehrheit, Sprachkursen fürs bessere Ankommen. „Es ist scheiße fürs Ankommen, wenn Boote ins Wasser kippen“, kontern Schüler*innen aus den Willkommensklassen.
Doch sie alle hören konzentriert zu, als Silvia Fehrmann spricht: Die Initiatorin der Neuen Expert*innen! stammt aus Südamerika. Ihre Großmutter wanderte einst von Deutschland nach Bolivien aus. „Meine Oma hatte drei Silberlöffel“, erzählt Fehrmann. „Und die waren ausschließlich für die indianischen Hausangestellten.“ Warum, habe sie die Oma irgendwann gefragt. Und die antwortete: „Silberbesteck lässt sich besser desinfizieren.“ Fehrmann ist trotzdem mit dem Gedanken aufgewachsen, dass alle Menschen gleich sind – so hat ihre Mutter es ihr beigebracht. Mittlerweile lebt sie seit 14 Jahren in Deutschland, und noch immer wundern sich Menschen, wenn sie erzählt, sie sei Migrantin. Denn Fehrmann ist blond, spricht akzentfrei deutsch und wird automatisch als dazugehörig wahrgenommen.
Anders als Izadora Nistor, die vor zwei Jahren nach Deutschland kam. Zusammen mit der Filmemacherin Merle Kröger hat sie für die Expert*innen ein Projekt entwickelt, das sich mit der Frage beschäftigt, wer man ist und wozu man gemacht wird. Izadora ist 14 und spricht noch nicht besonders gut deutsch. Vor ein paar Wochen war Kröger mit ihr in einem Berliner Schulamt. Warum das Mädchen nach zwei Jahren noch immer in einer Willkommensklasse säße, wollte sie wissen. Das mit dem „Willkommen heißen“ könne ja schließlich kein Dauerzustand sein. Sie bekam keine rechte Antwort. Auch Constanze Fischbeck hinterfragt mittlerweile das wohlmeinende Konzept Willkommensklasse: „Geht es da nicht doch in erster Linie nur um Anpassungsmaßnahmen?“