Claudia Perren: Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) erforscht in seinem Langzeitprogramm 100 Jahre Gegenwart (2015-18) historische und aktuelle Umbruchsituationen. Plädieren Sie mit Ihren Untersuchungen für ein Innehalten durch historische Verortung, um neue Modelle des Verstehens zu entwickeln?
Bernd Scherer: Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels erklären. Wir haben unser Vierjahresprogramm 100 Jahre Gegenwart mit einer Auftaktausstellung zur Wohnungsfrage verknüpft – die hat übrigens auch viel mit dem Bauhaus zu tun. In den großen Städten Berlin, London und New York, aber auch in der nichteuropäischen Welt explodieren die Wohnungspreise – und dies weil der Wohnungsmarkt zunehmend ökonomisiert und über Wohneigentum spekuliert wird. Die soziale Komposition von Städten verändert sich dadurch.
Da gibt es beispielsweise Investoren in Südeuropa, die aufgrund der Krise im Mittelmeerraum ihr Geld in Berlin investieren, was wiederum zu einer Krisensituation in Berlin führt. Bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper und Leute werden an den Rand gedrängt. Hinzu kommt noch die aktuelle Migrationssituation, die die Wohnungsfrage noch dringlicher macht. Die aktuelle Betrachtung der Wohnungsfrage zeigt also zum einen, wie sich das Lokale mit dem Globalen verbindet. Sie führt aber auch zu Fragestellungen, die uns in die Historie führen und aufzeigen, welche Relevanz historische Ideen – so die des Bauhauses – heute noch haben.
Wohnen wird heute nicht mehr gesellschaftlich gedacht. Deshalb haben wir untersucht, wo in den vergangenen hundert Jahren die sozialen Aspekte des Wohnens, also soziales Bauen, im Mittelpunkt standen. Es macht absolut Sinn, sich aus heutiger Perspektive mit Hannes Meyer und seiner Coop-Idee zu beschäftigen oder mit dem Wachsenden Haus von Martin Wagner, an dem auch Bauhäusler wie Walter Gropius mitgearbeitet haben. Dabei geht es um eine Architektur, die sich mit dem Bedarf und den finanziellen Ressourcen des Nutzers dynamisch verändert.
Für unsere Ausstellung haben wir eine zeitgenössische Adaption dieses Konzepts aus den 1930er Jahren als Eins-zu-Eins-Modell gemeinsam mit dem Londoner Architekturkollektiv Assemble und einer Seniorengruppe aus Berlin-Pankow entwickelt. Entstanden ist daraus ein Haus, das wachsen, sich aber auch reduzieren kann. Der Lebensrhythmus der Nutzer wurde also noch komplexer abgebildet als beim Wachsenden Haus, aber die Grundidee, dass Architektur in Bewegung ist, ist exakt übernommen worden.
Franziska Eidner: Diese Art der Auseinandersetzung würde man unter der folkloristisch anmutenden Bezeichnung Haus der Kulturen der Welt nicht vermuten. Das Selbstverständnis Ihrer Institution hat sich innerhalb der letzten 25 Jahre erheblich gewandelt. Inwieweit ist der Name Ihrer Institution noch angemessen für das, was sie tut?
Bernd Scherer: Wir haben in der Tat darüber nachgedacht, den Namen loszuwerden. Die Bezeichnung „Bauhaus“ war ja leider schon vergeben. (lacht) Wir kamen dann aber zu dem Ergebnis, dass es viel interessanter ist, die Tätigkeiten zu verändern und vorzuführen, was es eigentlich sein könnte, statt einen neuen Namen zu erfinden.
Als das Haus in den 1990er Jahren mit seiner Arbeit begann, war die nichteuropäische Welt in Deutschland kaum präsent. Zu dem Zeitpunkt hatte das HKW als eine Art Trendscout die Aufgabe, interessante Projekte und Künstler aus Asien, Afrika und Lateinamerika vorzustellen. Das Problematische daran war, dass die eigene Position nicht hinterfragt wurde. Das Haus definierte, was wichtig und nicht wichtig ist in der nichteuropäischen Welt.
Inzwischen hat sich die Welt verändert. Kulturelle Produktion ist im rein nationalen Kontext gar nicht mehr denkbar. Wir sind in Politik und Ökonomie zum Beispiel abhängig von China. China wiederum investiert in Afrika in einer Art und Weise, wie vor ein paar Jahrzehnten kaum vorstellbar. Du kannst deine eigene Kultur und deine eigene Gesellschaft gar nicht mehr verstehen, ohne in diesen internationalen Beziehungsgeflechten zu lesen. Wir verstehen uns heute als eine deutsche Kulturinstitution des 21. Jahrhunderts, die unsere Gesellschaft vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen liest. So wie es in den 1990er Jahren wichtig war, neue internationale Positionen vorzustellen, ist heute die Herausforderung, Konzepte zu entwickeln, die neue Zugangsweisen zur Welt anbieten.
Claudia Perren: Mit einem rein nationalen Kulturverständnis kommt man also nicht mehr weiter. Andererseits ist aber doch ein Bedürfnis nach einer lokalen kulturellen Identität offensichtlich. Man will ja nicht, dass überall alles gleich funktioniert, sondern eine gewisse Regionalität nicht ganz verlieren.
Bernd Scherer: Absolut. Es geht nicht darum, in Berlin eine Antwort auf all das zu geben, was in der Welt passiert, sondern aus einer Berliner Perspektive, den Zugang zur Welt zu öffnen. Ich nenne das die Perspektive eines „Rooted Cosmopolitanism“, also eines lokal verwurzeltenKosmopolitismus.
Und diese Perspektiven sind weltweit unterschiedlich. Bin ich beispielsweise aus Lagos, muss ich mich, um eine Reihe von Phänomenen zu erklären, auch öffnen zur Welt, aber die Perspektive wird eine andere sein. Das heißt, die Antwort auf die Debatte zwischen Universalismus und Multikulturalismus ist aus meiner Sicht kein Entweder-oder, sondern vielmehr wird aus jeder Position heraus ein lokal spezifischer Universalismus erzeugt. Man muss immer aus seinem lokalen Umfeld heraus das Globale im Blick haben, aber es ist ein anderes Globales, als wenn man das aus Asien oder aus Afrika betrachtet.
Vor dem Hintergrund dessen, wie wir heute die Welt sehen, lesen wir ja auch die letzten hundert Jahre anders. Nehmen wir das Bauhaus, dessen Wirken in der Welt man heute viel stärker als Austauschprozess liest. Wir sagen nicht mehr: Da ist eine westliche Moderne und die hat jetzt Zugriff auf die verschiedenen Kulturen der Welt. Sondern wir schauen vielmehr auf metabolische Prozesse, die in beide Richtungen spielen. Den Blick dafür bekommen wir erst jetzt so richtig.
Claudia Perren: Absolut. Deshalb wird das Finale der internationalen Ausstellungstournee, die wir als Bauhaus-Kooperation Berlin–Dessau–Weimar gemeinsam mit dem Goethe-Institut, dem Haus der Kulturen der Welt und einer Vielzahl zeitgenössischer Künstler und Kulturinstitutionen ab 2017 initiieren, im Bauhausjubiläumsjahr 2019 im HKW gezeigt. Wir verstehen das Bauhaus nicht nur als Sender, sondern auch als Empfänger. Wir hoffen, dass das hier genauso erfahrbar und sichtbar wird.
Bernd Scherer: Ja, das ist auch der richtige Ort. Natürlich auch, weil der Ort selbst, die Kongresshalle, Teil der Migrationsgeschichte des Bauhauses ist. Der Architekt Hugh Stubbins war ein Schüler von Gropius in Harvard. Wir haben 100 Jahre Gegenwart mit der Wohnungsfrage im Jahr 2015 begonnen und enden 2018 mit der Migrationsgeschichte und der aktuellen Rezeption des Bauhauses. Das finde ich großartig.
Die globale Erfolgsgeschichte des Bauhauses hängt für mich auch mit dessen Antwort auf die Suche nach neuen gesellschaftlichen Sinnsystemen zusammen. Die Antwort bestand in einer Praxis. Es ging also um neue Architektur- und Designpraxen, um neue Lebenspraxen. Und das ist heute aktueller denn je. Berlin ist ein Labor genau dafür. Man hat Leute im kulturellen Bereich, aber auch im sozialen und politischen, die ständig neue Lebenspraxen entwickeln. Das geht vom Essen über Wohnen bis hin zu Mobilitätsfragen. Ich verändere mich als Individuum, als Gruppe, und damit verändere ich die Gesellschaft. Das ist zutiefst eine Bauhausidee.
Wir wissen, das Bauhaus gab es nicht, es gab ganz unterschiedliche Bewegungen, aber eine zentrale Idee des Bauhauses war: Indem ich mich verändere, verändere ich die Gesellschaft. Auch uns geht es darum, Theorien oder theoretische Rezeption rückzubinden an konkrete Praxen. Und das ist derzeit notwendig, und zwar genau deshalb, weil die alten Theoreme und die alten wissenschaftlichen Disziplinen in dieser Form in unserer von Veränderung geprägten Gegenwart nicht mehr funktionieren.