Das Programm Free! Music ist Teil der Reihe 100 Jahre Gegenwart. Wenn man ein Jahrhundert zurückrechnet, landen wir im Jahr 1917. Zu diesem Zeitpunkt sind gerade die Futurist*innen aktiv, das Cabaret Voltaire hat in Zürich eröffnet, und Arnold Schönberg gibt seine sogenannten „Skandalkonzerte“. Wo sehen Sie als Kuratoren den Beginn freier Musik im Rahmen dieser Zeitrechnung?
Detlef Diederichsen: Bei den Phänomenen, die wir im Haus der Kulturen der Welt vorstellen, kann man nur in den seltensten Fällen behaupten: „An diesem Tag ging es los mit der freien Musik und vorher ahnte die Welt noch nichts davon.“ Fast alle musikalischen Entwicklungen befinden sich immer im Fluss, und die Wurzeln der Musik, die vor 100 Jahren neu und frei war, reichen oft bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die freie Musik bewegt sich zudem in Nachbarschaft und im Austausch mit den Entwicklungen in anderen Kunstgattungen. Aber ganz klar kann man sagen: 1917 war schon eine Menge los. Da wurde an allen Fronten nachgedacht und ausprobiert, auch über die Befreiung von Musik.
Björn Gottstein: Und natürlich gibt es auch Zäsuren in der Musikgeschichte. Die Futuristen haben 1913 mit Luigi Russolos Manifest L’arte dei rumori eine Kerbe in die Geschichte geschnitten, und 1909 unternimmt Arnold Schönberg mit seinem Opus 11 die ersten expressionistischen Versuche, in ganz wenigen Klangballungen einen befreiten Ausdruckswillen zu formulieren. In den 1910er Jahren gab es ein enormes Freiheitsstreben.
Man spricht immer von der globalen Sprache der Musik – sie sei grenzübergreifend und würde Nationalstaaten und Sprachen hinter sich lassen. Welche Rolle fällt der freien Musik in einer Zeit zu, in der die Uhr zurück gedreht wird?
Björn Gottstein: Es gab sehr lange eine Verklärung der Musik als eine Art „Sprache des Herzens“, die alle Menschen verstünden. Eigentlich ist diese Verklärung erst im späten 20. Jahrhundert im Zuge von poststrukturalistischem Denken und einem etwas feineren Differenzbegriff infrage gestellt worden. In dem Moment, an dem man musikethnologisch zu kontextualisieren begann und den Musikbegriff hinterfragte, stellte man plötzlich fest, dass in anderen Räumen als dem europäischen gar keine ästhetische Praxis definiert ist und es vielmehr eine soziale Praxis gibt. Somit wurde klar, dass in verschiedenen Kulturbereichen unter „Musik“ ganz verschiedene Dinge verstanden werden. Diese Ausdifferenzierung der Bedeutung von Musik war sehr hilfreich, weil mit einem Mal nicht mehr unterstellt wurde, dass „die“ es genauso so meinen, wie „wir“. So konnte der Diskurs viel komplexer werden.
Detlef Diederichsen: Es gibt parallele und widersprüchliche Entwicklungen. Dies sind sowohl nationalistische Retro-Bewegungen wie zum Beispiel die serbische Turbofolk-Szene wie auch Aufbrüche aus lokalen Traditionen in die Internationalität. Da wäre die polnische Band Lautari zu nennen, die wir zu Free! Music eingeladen haben. Lautari haben mit Maciej Filipczuk einen extrem bemerkenswerten Geiger, der so virtuos und traditionell spielt wie vor 100 Jahren. Dadurch haben Lautari auch mehr als nur ein Publikum — eines, das an freier Musik interessiert ist, und eines, das sich mehr für traditionelle Musik erwärmt. Auch El Ombligo aus Kolumbien brechen Folk-Traditionen radikal auf, die andernfalls Gefahr laufen würden zum Klischee zu verkommen. Sie nehmen Cumbia-Stereotypen und dekonstruieren sie radikal — nicht zuletzt mit den Mitteln, die auch dezidiert am Freejazz geschult sind.
Björn Gottstein: Auch deswegen ist das Programm Free! Music so heterogen, weil das, was in Musik an Freiheit transportiert werden kann, in Südafrika während der Apartheid etwas ganz anderes bedeutet, als wenn Harry Partch das Gefühl hat, dass zwölf Töne auf der Klaviatur nicht mehr ausreichen.
Während der vier Spieltage von Free! Music wird es insgesamt 16 Konzerte geben. Nach welchen kuratorischen Kriterien haben Sie das Programm gestaltet?
Detlef Diederichsen: Wir sind ständig auf der Suche. Wir reisen viel und hören permanent die unterschiedlichsten Musiken. Die zentralen Aspekte des Programms sind die großen Befreiungsbewegungen seitens der Leute, die aus der komponierten Musik kamen und die nach Möglichkeiten gesucht haben, diese Einengungen zu überwinden. Da wären Conlon Nancarrow und Harry Partch zu nennen. Wir haben einen besonderen Fokus auf Südafrika, weil das Land auf eine jahrzehntelange Musikgeschichte zurückblickt, die sich zur Apartheid verhalten musste. Das ist eine lange Geschichte, auch einer musikalischen Befreiung, die bei uns so noch nicht erzählt wurde.
Björn Gottstein: Wir haben uns die Frage gestellt: Wo erleben wir Freiheit, wo ist sie gefährdet und wo spielt sie in der Musik eine Rolle. Wir zeigen auch den Film Johnny Cash at Folsom Prison, wo Cash vor Häftlingen spielt, die im Freiheitsentzug leben. Wir haben nach einer Balance gesucht zwischen den verschiedenen Erfahrungsmöglichkeiten von Freiheit, Emanzipation, Entgrenzung, Widerstand und Protest in der Musik.
Gab es persönliche Epiphanien, die Ihren Zugang zu freier Musik geprägt haben, die vielleicht auch auf die Auswahl der Musik rückgekoppelt sind? Bilden sich Ihre Biographien und persönlichen Interessen in dem Programm ab?
Detlef Diederichsen: Bei mir gab es privatbiographisch immer eine ambivalente Beziehung zu dem, was allgemein als „freie Musik“ bezeichnet wird. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie mein Bruder und ich als Jugendliche Musik aus dem Radio auf Kassette mitschnitten. Eines Tages haben wir Responsible von Peter Brötzmanns Album Machine Gun aufgenommen. Das war für uns der Wahnsinn. Solche Schlüsselmomente erlebe ich aber immer wieder. Ich habe vor einiger Zeit Emil Richards entdeckt, das ist ein Percussionist und Vibraphonist aus der Wrecking Crew in L. A. Der hat ganz verrückte Platten gemacht, bei denen er Mikrotonalität und groovy Jazz der 1960er Jahre auf eine total irre Art zusammengebracht hat. Mich haben diese Musikhybride immer sehr interessiert — und natürlich die Ideen dahinter. Warum macht ein Peter Brötzmann so etwas wie Responsible? Was für Ideen liegen der Musik von Conlan Nancarrow zu Grunde? Darüber gibt es teilweise viel Text zu lesen. Ich finde es unendlich spannend, hinter der Musik auch die Gleichungen zu erkennen, nach denen jemand komponiert hat. Diese Momente der Erkenntnis waren immer großartig.
Björn Gottstein: Solche Momente der Erleuchtung sind phänomenal. Es gibt Orte in der Musik, die man sich nicht vorstellen, die man nur entdecken kann. Musik, die einen an diese Orte bringt, die Grenzen überschreitet, hat mit dem Freiheitsdrang des Künstlers zu tun. Diesen Bereich als Hörer auch zu betreten, dort hinzukommen, das ist unser Anspruch an Free! Music.