Fetewei Tarekegn ist spät dran, als er im Frühjahr vergangenen Jahres zum ersten Mal den Jerusalem-Friedhof betritt. Ein paar junge Geflüchtete aus arabischen und westafrikanischen Ländern sind bereits da. Sie streichen das alte Steinmetzhaus hinter dem Eingang und diskutieren, ob sie sich hier wirklich eine Gärtnerei vorstellen können. Ausgerechnet auf dem ungenutzten Teil eines Friedhofs haben die Initiativen raumlabor und Schlesische 27 sie zum Guerilla-Gardening eingeladen. Was aber anfangen mit 1.600 Quadratmetern Boden, neben denen noch Tote ruhen und auf dem Kirche und Neuköllner Nachbar*innen allgegenwärtig sind? Auch Tarekegn selbst, Agrarwissenschaftler aus Äthiopien, der als Teamleiter mitarbeiten will, ist unsicher, wie andere Friedhofsbesucher*innen ihr Projekt Die Gärtnerei wahrnehmen werden. Doch es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. „Irgendwann haben wir einfach Säcke mit Erde geschultert“, erzählt er, „und sind an Gräbern vorbei zur Brache.“
Die angehenden Gärtner wollen den Boden möglichst schnell bestellen, wollen endlich etwas tun. Das Projekt soll den Geflüchteten das endlose Warten im neuen deutschen Alltag verkürzen. Es soll die Zeit zum möglichen Asylbescheid oder zur Arbeitserlaubnis ausfüllen. Mit Deutschunterricht und Gartenkunde auch Berufsperspektiven eröffnen. Doch die Friedhofserde ist zäh. Ohne Pflug kommt der Garten kaum voran. Als er endlich aufgetrieben ist, passt er nicht durchs Eingangstor. Und als nach Wochen die Genehmigung kommt, den Pflug anderweitig auf den Friedhof zu wuchten, lohnt es sich kaum noch zu pflanzen. Mittlerweile aber haben die Gärtner eine Vision, und keiner von ihnen lässt sich von ein bisschen Friedhofserde entmutigen – sie säen einfach trotzdem.
Ein gutes Jahr später sitzt Tarekegn auf einem Holzsteg, der durch ein Feld aus Sonnenblumen führt. Kinder toben zwischen Dahlien, Astern und Schafsgarben umher. Babys krabbeln über Picknickdecken und durch den Nutzgarten. Im alten Steinmetzhaus wird Essen ausgegeben, und vor dem selbst gebauten Gewächshaus reiht sich ein sehr diverses Publikum. Die Besucher*innen von Constanze Fischbecks mobiler Video-Installation Terra Nova – Preview warten auf ein freies i-Pad, das sie mit Videogesprächen durchs Gelände führen soll. Denn längst sind auch Künstler*innen, Soziolog*innen und Aktivist*innen auf diesen ungewöhnlichen Ort aufmerksam geworden. Und einige von ihnen diskutieren nun in Fischbecks Dokumentation mit Gärtnern, Geistlichen und Anwohner*innen über das Friedhofs-Neuland, das sie alle verbindet.
Es ist ein fragiles Geflecht aus Vorstellungen und Erwartungen, das die Menschen hier mitten im schnell wachsenden Gentrifizierungsgebiet Schillerkiez zusammenbringt. An diesem Ort, der nicht nur aktiver Friedhof und Friedhofsbrache ist, sondern der auch Gedenkstätte für NS-Zwangsarbeiter*innen und Wohnprojekt werden soll – und dessen Garten stetig wächst. „Ich finde die Gleichzeitigkeit der Friedhofstransformation und der gesellschaftlichen Veränderungen in der Stadt unheimlich spannend“, sagt Fischbeck. „Wir wussten letztes Jahr, als die ersten Filme aufgezeichnet wurden, ja noch gar nicht, wie dramatisch sich das Thema Flucht in Deutschland entwickeln würde.“ Bedrückend aktuell klingt ein gefilmtes Gespräch über staatliches Versagen im Umgang mit Geflüchteten vom letzten Jahr. Aufmunternder die Gedanken des ehemaligen Pastors Jürgen Quandt zum Thema Kirchenasyl oder die unverschnörkelten Willkommensgesten der Kiezaktivistin Beate Storni. Doch am eindringlichsten sind die aktuellen Aufnahmen mit den Gärtnern, deren Leben sich in stetiger Ungewissheit zwischen Willkommens- und Ausgrenzungskultur verändert hat.
Moussa Sissoko sitzt im Gewächshaus und verteilt i-Pads. Im Film steht der Farmer aus Mali ein paar Meter weiter und diskutiert mit der Kunstpädagogin Hanne Seitz über die Beschaffenheit des Bodens. Er sei kein „Illegaler“ korrigiert er sie, weil sie es in einem Nebensatz gesagt hat, er sei nur ohne Dokumente hier. Er sagt es geduldig, fast verhalten, vermutlich zum x-ten Mal. Dann, etwas forscher, will er wissen, was Seitz von diesem Gartenprojekt hält. Ob sie glaube, dass es ihn und die anderen Geflüchteten bei den Deutschen beliebter machen könne. Seitz antwortet ausweichend, weiß, dass ihre Haltung zu Geflüchteten nicht unbedingt die der Mehrheit spiegelt – und es ist ihr unangenehm.
Ein paar Besucher*innen, die an diesem Nachmittag zur Installation auf den Friedhof gekommen sind, geht es ähnlich. Nach und nach geben sie ihre i-Pads ab und nehmen die Gärtner wahr, die nun plötzlich real vor ihnen stehen; Gespräche entwickeln sich. Das Bemühen, die allzu offensichtlichen Themen dabei zu umschiffen, ist groß. Kaum jemand stellt Fragen nach Fluchterfahrungen, kein „Wo-kommst-Du-her“ oder „Wo-willst-Du-später-wieder-hin“? Eher sind es pragmatische Gespräche über die Möglichkeiten, die sich den Gärtnern durch die Arbeit auf dem Friedhof bieten. Alle wissen, dass diese Arbeit kein Garant für eine Zukunft in Deutschland ist. Dass sie bestenfalls der Berufsorientierung dient und keine konkreten Chancen liefert. Dass sie ablenkt vom Alltag, in dem Freunde aus Fenstern von Polizeiwachen springen, wie es in einem Gespräch dokumentiert ist. Und dass ein solcher Alltag für die meisten Besucher*innen kaum nachvollziehbar ist.
Auch Bonaventure Ndikung weiß bestens, wie schwer die Vermittlung nicht-westlicher Erfahrungen im deutschen Umfeld sein kann. Eigentlich ist es der Documenta-Kurator leid, stets die Position des „nicht-deutschen“ Experten anzunehmen. Doch er nutzt sie, wenn er darüber spricht, wie problematisch er die Beteiligung von Geflüchteten bei Kunstprojekten findet. „Die Frage nach Instrumentalisierung und den Hierarchien im klassischen Kulturbetrieb muss viel deutlicher gestellt werden“, sagt er in einem von Fischbecks Videos. Und genau das ist der Kunstgriff der Filmemacherin: dass sie sämtliche Meinungen nebeneinander stehen lässt. Dass sie die unterschiedlichen Interessen von Geflüchteten, Anwohner*innen oder Künstler*innen kommentarlos dokumentiert und dabei die Situation der Gärtner nicht aus dem Blick verliert; nicht ihren Schaffensdrang einerseits und die Perspektivlosigkeit andererseits.
„Wir wissen nicht, was in einem Jahr aus diesem Ort geworden sein wird“, sagt Barbara Meyer, vom Verein Schlesische 27 und Initiatorin des Projekts. Doch vielleicht ist das auch gar nicht entscheidend. Vielleicht geht es hier schlicht um eine Auseinandersetzung, die endlich in Gang gekommen ist. Denn das hat die Gärtnerei geschafft, die seit Monaten Besucher*innen anlockt und sie miteinander ins Gespräch bringt. „Ist es nicht ohnehin erstaunlich, dass wir einen Garten mitten in einer Stadt anlegen konnten, die mittlerweile nicht mal mehr Platz für ihre Bewohner hat“, fragt Fetewei Tarekegn. Und verschwindet zwischen Sonnenblumen.