Mein Schwiegervater Pedro Medina Sotomayor – oder Don Pedro, wie ich ihn nenne – füllt Stille mit Geschichten. Er erzählt von seiner Zeit als Taxifahrer oder Gewerkschaftsführer oder von damals, als einer der 33 Bergmänner ihn zu Hause besuchte, um das Modell der chilenischen Mine zu betrachten, die 2010 eingestürzt war. Er hat keinen Filter, wenn er redet, kommt nie zu spät, zieht andere Menschen gern ein wenig auf und ist stolz darauf, Aufgaben gut und pünktlich zu erledigen. Er spielte auch eine zentrale Rolle in Chiles kurzlebigem Versuch, ein Auto für das Volk zu bauen.
In den 1960er und frühen 1970er Jahren arbeitete Don Pedro für den Autohersteller Citroën. Als der sozialistische Kandidat Salvador Allende 1970 die Präsidentschaftswahlen gewann, war Don Pedro Leiter der Abteilung Methoden bei Citroën Arica in Nordchile. Allendes Regierung der Unidad Popular bemühte sich, der Bevölkerung mehr bezahlbare Güter zur Verfügung zu stellen. Diese Politik ging Hand in Hand mit Einkommensumverteilung, erhöhter Produktion im staatlichen Sektor der Wirtschaft und abnehmender Arbeitslosigkeit. Von 1970 bis 1973 produzierte die Allende-Regierung preisgünstige Autos, Motorräder, Nähmaschinen, Elektrogeräte und Möbel. Konsum und Produktion bildeten somit wichtige und ineinandergreifende Teile von Chiles Plan für friedliche sozialistische Veränderungen.
Nach Allendes Wahl ordnete Wirtschaftsminister Pedro Vuskovic die Herstellung eines dem Jeep ähnlichen Nutzfahrzeugs an, das in der Produktion weniger als 250 Dollar kosten sollte. Mit Geldern und Technologie vom Mutterunternehmen Citroën entwickelte die chilenische Fabrik, in der Don Pedro arbeitete, Pläne für ein Fahrzeug, das dem Citroën Baby Brousse nachgebaut werden sollte. Der französische Autohersteller hatte ein ähnliches Fahrzeug bereits für den öffentlichen Nahverkehr in Vietnam entwickelt. Auch ließ die chilenische Fabrik sich vom Citroën Méhari inspirieren, einem günstigen Nutzfahrzeug, das in den 1960er Jahren in Argentinien produziert wurde. Die Chilen*innen nannten den neuen Wagen „Yagán“, ein Verweis auf ein indigenes Volk, das vor seiner Auslöschung in der Provinz Tierra del Fuego an der südlichen Spitze von Chile lebte. Während die Chassis, der Motor und das Fahrwerk des Autos aus anderen Citroën-Modellen entnommen wurden, stammten die Entwürfe für die Karosserie von Arbeiter*innen in der Citroën Arica Fabrik, die sie auch für die Produktion testeten.
Cristián Lyon, der Chef von Citroën während der Allende-Ära, beschreibt die Produktion des Yagán als eher handwerkliches Unternehmen, nicht als wissenschaftliches: Hier wurde etwas abgeschnitten, dort etwas geglättet, und Teile von Citroën-Fahrzeugen wurden auf kreative Art kombiniert, um ein eindeutig chilenisches Auto zu bauen. „Ich bestehe darauf, dass es fast eine Metapher für die Geschichte Chiles war“, schreibt Lyon in einem Online-Interview und meint damit vielleicht die Bereitschaft der Citroën-Arbeiter*innen, etwas von Grund auf Neues zu bauen, ungeachtet der Hürden, die es dabei zu überwinden galt.
Am 11. September 1973 beendete ein Militärputsch Chiles sozialistisches Experiment. Citroën verkaufte die restlichen Yagáns an das chilenische Militär. Es heißt, das Militär habe die Autos aus tief fliegenden Flugzeugen fallen lassen, um zu testen, ob sie für das Patrouillieren der ausgedorrten Grenze zwischen Chile und Peru zu gebrauchen waren. Den Autos tat das nicht gut.
1990 kehrte Chile zur Demokratie zurück. Und seit den späten 1990er Jahren betrachten Wissenschaftler*innen und Journalist*innen den Yagán als Beispiel für chilenische Technologie unter dem Sozialismus, und als materielle Repräsentation von Allendes utopischem Projekt, das nie umgesetzt wurde. Sowohl das chilenische Fernsehen als auch Filme und die Printmedien haben den Yagán als Meilenstein in der Autoindustrie Chiles bezeichnet. Während Chiles Design Biennale 2010 repräsentierte er als Installation gar das Veranstaltungsthema: „Chile se diseña“, Chile designt sich. Der Dokumentarfilm La Huella del Yagán (Die Spur des Yagán, Regie: Patricio Díaz und Enrique León) porträtierte das Auto eher als nostalgisches Objekt. Gezeigt wird die Reise von zwei jungen Chilenen, die einen Yagán von Santiago in die nordchilenische Stadt Arica fahren, wo das Auto produziert wurde – das historische Fahrzeug wird also an seinen Geburtsort gebracht, während seine Geschichte erzählt wird. Die Geschichte des Yagán beschreibt so auch Brüche und Versöhnungen der chilenischen Geschichte: beginnend bei einem Auto für das Volk, das zu einem militärischen Transportfahrzeug wird und schließlich der Erinnerung an und einem besseren Verständnis der Allende-Ära dient.
Das berühmt gewordene Foto des Yagán zeigt Don Pedro auf dem Fahrersitz. Im Hintergrund sieht man den Strand und die Palmen von Arica, der Stadt des „ewigen Frühlings“. Über dieses Foto kam Don Pedro in Kontakt mit Filmemacher*innen, Journalist*innen, Historiker*innen und Autofans. In der Citroën Yagán-Gruppe auf Facebook ist er ein Star.
2004 bat ich meinen Ehemann Cristian, seinen Vater zu dessen Erlebnissen bei der Arbeit am Yagán-Projekt zu befragen. Dieses Interview zeichnete ich auf und ließ es transkribieren. Das Transkript ist Familien- und Technologiegeschichte zugleich. Es veranschaulicht, wie die Vorstellungen der Regierung der Unidad Popular vor Ort umgesetzt wurden und welche Erfindungsgabe bis hin zu Geniestreichen dafür erforderlich waren. Technologie wurde mittels Reparatur und Zweckentfremdung anders nutzbar gemacht. Heute erwachen diese Technologien in unserer Erinnerung und in den Geschichten, die wir uns über sie und ihre Bedeutung für unseren damaligen Alltag erzählen, wieder zum Leben. Indem wir das Andenken an vergangene Technologien pflegen und weitertragen, geht es in unsere Erzählungen über Nationen und Familien ein und wird zu einem Teil unseres Verständnisses beider. […]
Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Diktatur erlebte Chile 1982 seine schlimmste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression. Citroën siedelte Don Pedro 1983 von Arica in die Hauptstadt Santiago um. Zwei Jahre später verlor er seine Stelle und fand Arbeit als Taxifahrer. Mitte der 1990er Jahre kehrte Cristian nach Arica zurück und machte ein Foto vom Haus seiner Kindheit. Das Haus hatte immer noch seinen Zaun aus Yagán-Stoßstangen.