Annie Gårlid:  Das alltägliche Leben bewegt sich ständig zwischen den Bezugsrahmen unserer Vorstellung und tatsächlichen Referenzen hin und her. Inwiefern beeinflusst dieser Grenzbereich Ihre Arbeit?

James Whipple: Ich denke, mich überzeugt das Digitale automatisch als etwas Eigenes, und jede Steigerung der Auflösung oder Klangtreue bedeutet dabei einen Schwellenwert für die bewusste Erfahrung. Irgendwie glaube ich also in einer primitiven Art und Weise an die Marketingsprache von Flachbildfernsehern, virtueller Realität, Theater-Tonsystemen und so weiter. Die Beziehung zum Digitalen im Allgemeinen zu „problematisieren“ interessiert mich nicht. Ich glaube, man kann Teil eines Umfeldes sein und trotzdem kritisch bleiben. Ich bin froh, als junger Mensch bereits vor der Zeit sozialer Netzwerke online gewesen zu sein und das Internet als sehr offenen, aber auch sehr privaten Raum erlebt zu haben.

“Liminalität” steht dem Begriff der “Schwelle“ sehr nahe, verweist aber zusätzlich auf die emotionalen Zustände (Orientierungsverlust, Verstimmung), die mit Übergangsriten und dem Wechsel zwischen verschiedenen Welten oder Existenzsystemen zusammenhängen können. Welche Funktionen würden Sie Ihrer Musik in Hinblick auf diese Gefühle zuschreiben?

Musik kann manchmal Leid lindern, was die Wahrnehmungsbandbreite der Hörer*innen erhöht. Das kann auf viele verschiedene Arten geschehen, durch Wiederholung, Harmonie, Geräusche oder ähnliches. Ich versuche, in meiner Musik einen Zustand zu erreichen, der sich für mich richtig anfühlt und indem ich die Bausteine verwende, die mir direkt zur Verfügung stehen. Ich suche dabei nicht durch Annäherung an experimentelle oder funktionale Musik nach einer Rechtfertigung.

In der Pressemitteilung von Hesaitix und in einigen Interviews werden das „Bauen akustischer Welten“ und das Album als „Raum digitaler Audiofantasien“ angesprochen. Das klingt, als wollte Ihre Musik nicht einfach nur auf Grenzen reagieren, sondern durch das Imaginieren von „anderen Orten,“ wie es Thea Ballard in ihrer Rezension formuliert, auch zu etwas Neuem aufrufen. Entstehen diese Orte aus dem Zirpen der Zikade oder ist das Zirpen ein Teil der Landschaft?

Die Zikade ist schon da.

Haben diese anderen Räume eigene Technologien? Ihre Arbeit, begleitet von den Video-Installationen Michael Guidettis, scheint sich weniger auf idyllische Plätze als auf schrammige Orte mit eigenen, kryptischen Symbologien und auf Artefakte mit alten und verborgenen Funktionen zu beziehen. Worauf, wenn überhaupt, wird dabei verwiesen? Die Szenen strahlen durch die Abwesenheit jeglicher Vermittler*innen eine Einsamkeit und etwas Okkultes aus.

Ich mag es nicht, wenn etwas aus reinem Selbstzweck heraus kryptisch ist, ich mag auch keine technologischen oder okkulten Andeutungen. Es geht mir eher um die Annäherung an etwas Unartikulierbares, weil da draußen oder da drinnen wirklich etwas ist. Ich finde Zugänge interessant, die gleichzeitig reduziert und überladen oder dekorativ sein können. Ich muss mich von der Medienkunstästhetik und von falscher Kritik fernhalten und versuchen, etwas Visionäres zu entdecken, sofern es mir gelingt. Ich glaube noch immer daran, dass elektronische Musik etwas Zukünftiges in sich trägt, nicht an Zitate oder an irgendeine Art „verlorener Utopie.“ Es gibt da dieses unheimliche Leuchtfeuer jenseits der Amoralität, das uns ruft.

Standbild, Hesaitix Live Performance | ©Michael Guidetti

Welche Landschaftsformen interessieren Sie? In einem anderen Interview sprechen Sie davon, Sounddesign einzusetzen, um durch ein Herauszoomen und mit horizontalen Bewegungen die von der Musik evozierten Landschaften zu „vergrößern“. Im Video zu Search. Reveal ist eine endoskopisch enge, vertikale Bewegung in einem Brunnen zu sehen. Hat es konkrete Gründe, weshalb Sie gerade diese Art von Territorium oder Bewegung anspricht?  

Ich glaube, dass  mich unabgeschlossene, mehrdeutige Territorien aus psychologischen Gründen anziehen. Das Aufteilen und Nutzen eines Landes bis hin zur Einfriedung des Gemeingutes hat zweifellos etwas Widersprüchliches an sich. Wenn alles eingezäunt, aufgeteilt und benannt ist, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, auszusteigen. Ich glaube wirklich an persönliche Freiheit, aber es ist traurig, sie in einer derart degradierten Umwelt zu erleben. Für mich ist das aber auch ein Widerspruch, weil mich das, was das Kapital und der Staat mit ihren gewaltvollen Umgestaltungen unserer Umwelt erreichen, oft wirklich beeindruckt.

Weshalb haben Sie sich für Filmszenen entschieden, die unter der Erde spielen?

Es gibt etwas an der Fahrt in einen Tunnel hinunter, das mich an alte Grafiken aus der Demoszene erinnert. In Verbindung mit elektronischer Musik hat das so etwas Fundamentales. In der Geschichte von Search. Reveal. ist es ein fürchterliches Relikt unter der Erde in einer Art Anlage und könnte Teil eines vergessenen Terraforming-Projektes sein.

Welchen Ausgangspunkt hat Ihre gemeinsame Arbeit mit Michael Guidetti? Welches Verhältnis besteht zwischen Klang und Video?

Michael ist ein sehr interessanter Künstler, weil er es schafft, ohne die Ausdrucksformen aus dem Bereich der elektronischen Musik und der Audiovision A/V auszukommen. Weil er als Maler und Animator ganz anders geprägt ist. Er muss mit meinen sehr vagen Andeutungen und Collagen klarkommen, aber letztlich ist das, was er macht, seine eigene Arbeit. Voriges Jahr hat er einen Film mit dem Titel Likeness gedreht, der das virtuelle Leben aus einer fast animistischen Perspektive betrachtet. Für seine Podcast-Serie Skeleton Sweep, die vor etwa zehn Jahren lief, setzte er so genannte „Field Recordings“ von Freunden ein und verschiedene andere Quellen, die aber nicht unbedingt von echten Orten stammten. Wir teilen wohl ein Interesse an imaginierten Orten wie etwa das Inneren des Digitalen.

Welche Rolle spielt der Rhythmus im Konzipieren von Musik als anderer Ort?

Das ist eine gute Frage, die zu beantworten mir nach wie vor Schwierigkeiten bereitet. Wenn ich plötzlich eine Quantifizierung in einem Stück höre, in dem es zuvor keine gab, klingt das nicht unbedingt nach einem besonders selbstsicheren Eingriff. Als DJ habe ich dagegen noch eine andere Perspektive, und bin immer auch an der hypnotisierenden Komponente von Loops und Schlagzeug interessiert. Was den Sequenzer betrifft, bin ich ständig auf der Suche nach dieser Fluidität zwischen Andocken und Freispielen. Es ist absurd, dass standardisierte DJ-Ausrüstungen in Clubs diese Fluidität oft in einer Art leisten, die eine fortschrittliche Hardware oder ein digitales MIDI Setup nicht bieten können.

Ich habe oft den Eindruck, dass Rhythmus als eine Art Standard eingesetzt wird, um die Aufmerksamkeit der Menschen aufrechtzuerhalten und um eine klangliche oder audiovisuelle Erfahrung „zugänglich“ zu machen. Dieses Gefühl habe ich bei Ihrer Musik überhaupt nicht. Aber wenn das Musikhören etwas vom Beobachten einer Landschaft hat, dann kann der Rhythmus den Beobachtenden ein Gefühl von Motivation, Ende oder auch einer Aufgabe geben. Wie in einem Videospiel. Ich denke, es ist manchmal ein organischer Übergang und ein andermal nicht. Jedenfalls ist es gut, sich nicht eingesperrt zu fühlen.

Ich vergleiche es immer mit dem Gefühl, auf Bahngleisen zu fahren. Für mich ist es wichtig zu wissen, dass ich mich jederzeit in alle Richtungen bewegen kann, auch dann, wenn ich hauptsächlich mit bereits vorher aufgenommenen Musikstücken arbeite, die im Studio minutiös aneinandergereiht wurden.

Standbild, Hesaitix Live Performance | © Michael Guidetti

Wir haben die Darstellung von archaisch anmutenden Artefakten und Alphabeten in Ihrem Video Search. Reveal. angesprochen. Sie scheinen ein Schwerpunkt des gesamten Albums zu sein. Der Titel Hesaitix klingt nach System/Logik/einem theoretischen Rahmen. Woher kommt er?

Dem Titel liegt das Wort Cathexis zugrunde. Ich muss ihm das erste Mal bei Wilhelm Reich begegnet sein. Ich kenne mich nicht besonders gut mit Psychologie aus, aber als ich sehr jung war, habe ich die Charakteranalyse gelesen. Gemeint ist das Besetzen einer Idee oder einer Erinnerung mit libidinöser oder einfach geistiger Energie, meist in einem negativen Zusammenhang. Irgendwann begann ich also Anagramme von Cathexis zu schreiben, veränderte ein paar Buchstaben und fand Hesaitix. Ich mochte das, weil es wie ein erfundenes, lateinisches oder griechisches Wort aussieht. Außerdem war ich zu der Zeit, als ich das Album fertigstellte, in Umbrien auf dem Land und las etwas zu italienischem Heidentum. Mir ist klar, dass das alles unerträglich anmaßend klingen muss. Meine Musik enthält zwar hoffentlich all diese verschiedenen Anspielungen, Symbole und Synchronizitäten, aber letztendlich hoffe ich, dass sie ohne Rechtfertigungen auskommt und einfach für sich selbst steht. Meine Arbeit fühlt sich manchmal wie Turbo-Pastiche an, manchmal wirklich streng formalistisch. Es ist alles miteinander vermischt …

Die Technosphäre macht so viele Aspekte des Lebens transparent. Aber gibt es auch neue Undurchsichtigkeiten und Mysterien? Falls nicht, wo könnte danach gesucht werden?

In der Musik, manchmal.

Archaische Traditionen gefielen mir immer schon, musikalischer und anderer Art. Eine isolierte Auseinandersetzung damit fand ich dagegen nie gut, ich wollte sie immer durch den Kontext des Neuen reflektieren. Es gibt das Mittelalter und dann gibt es die Vorliebe für das Mittelalter, die sich entwickelte, weil die Traditionen dieser Zeit etwas bieten, was der Gegenwart fehlt –eine andere Ausdrucksform oder der Ausdruck von etwas anderem.

Ich sehe das auch so.

Was nährt ihre Arbeit?

Der Wunsch, näher an etwas Mystisches zu gelangen, die Suche nach neuen Bewusstseinszuständen, auch Langeweile, Ekel, Trauer, Ego oder Freude. Ich glaube leider, dass ich noch nicht wirklich in meinem Leben angekommen bin und auch das Musikmachen nicht unbedingt genieße. Aber ich habe das Gefühl, mir etwas aufzubauen, und das ist erfüllend.