[…] Ist [die Demokratie] sterblich wie die Menschen? Falls sie jemals „geboren“ wurde: Heißt das, dass sie eines Tages auch „sterben“ könnte? […] Weiß irgendjemand, ob dieser Tag vielleicht schon gekommen ist, ohne dass wir es bemerkt haben?
Die Politikwissenschaft beantwortet solche Fragen weder, noch stellt sie sie jemals. Das ist nachvollziehbar, denn geschichtliches Denken im Allgemeinen und Vorstellungen wie ein Epochenbruch, eine völlige Offenheit für das Kommende oder eine unreduzierbare Kontingenz historischer Ereignisse sind schlicht nicht ihr Geschäft. Oder vielleicht sollte man sagen: Sie sind es heute nicht mehr, weil es inzwischen schon schwerfällt, sich einer eingefahrenen kognitiven Logik hinter der These vom Ende der Geschichte zu entziehen. Diese These bedingt notwendig auch eine klare Vorstellung davon, was sich zu denken lohnt und was nicht, oder besser gesagt: welches Wissen sinnvoll und von einigem Nutzen für uns ist, welches andere dagegen unnütz und verzichtbar. Sobald das letzte Ziel der Geschichte verbindlich erklärt ist, kann kein anderes, wie immer geartetes Ziel noch von Interesse für uns sein. Selbst die Frage möglicher Periodisierungen der nachgeschichtlichen Zeit wird dann unerheblich. Es bleibt nur, die Dinge im Rahmen einer für immer festgelegten Ordnung zurechtzulegen. Um das leisten zu können, braucht man jedoch Wissen. Nicht alle sind dazu in der Lage, sondern nur diejenigen, deren Denken kultivierter, deren Sicht auf die Wirklichkeit fokussierter und deren Begriffswerkzeug feiner justiert ist als bei den meisten anderen. Mit anderen Worten, wir brauchen dafür Menschen, die nicht nur über höheres Wissen verfügen, sondern auch gelernt haben, dieses Wissen sachgerecht anzuwenden. Diese Menschen nennen wir Expert*innen. Ohne ihre Mitwirkung bleiben wir dumm. Oder positiv ausgedrückt: Uns auf ihr Wissen zu verlassen, macht uns „klug“.
Das behauptet jedenfalls der Soziologe Anthony Giddens in Jenseits von Links und Rechts – Die Zukunft radikaler Demokratie (Suhrkamp: Frankfurt 1997). In dem Zeitalter, das er die „reflexive Modernisierung“ nennt, müssen sich die Menschen mit einer weitläufigen, globalisierten Welt auseinandersetzen, wenn sie darin handeln, sie verstehen oder auch nur in ihr überleben wollen. Gelingen kann das nur, wenn sie gewohnheitsmäßig die von Fachleuten bereitgestellte Information verarbeiten und darauf aufbauend handeln. So wird das Wissen selbst zu einer Konstituente des gesellschaftlichen Lebens. Es prägt unser Selbstverständnis und macht aus dem Planeten, wie Giddens ausdrücklich sagt, eine „Welt der klugen Menschen“.
Offensichtlich gilt dasselbe für die real existierende liberale Demokratie. Sie kann fortbestehen oder, wie der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in Das Ende der Geschichte (Kindler: München 1992) vorhergesagt hat, unsterblich werden nur, wenn „kluge Menschen“, also Lai*innen, die dank Expert*innenkenntnissen „klug“ geworden sind, dieses Wissen fortlaufend reproduzieren. Wenn die Demokratie wahrhaft unsterblich werden soll, müssen wir nichts weiter tun, als auf unsere Expert*innen zu hören.
Nun gibt es auf der Welt aber noch andere Expert*innen – etwa die „Expert*innen des Alltags“ von Rimini Protokoll. Auch sie sind Lai*innen, doch sie treten in diesem dokumentarischen Theater nicht nur als Darstellende, sondern auch als Träger*innen eines bestimmten Wissens in Hauptrollen auf. Als Schauspieler*innen auf der Bühne spielen sie eine Rolle von sich selbst, die sie in Zusammenarbeit mit den Theatermacher*innen gestalten. Diese Rolle ist eine Erzählkomposition, eine subjektive Mischung aus persönlichem Schicksal, Berufserfahrung und Selbstreflexion unter Verwendung der eigenen Lebensgeschichte. Da ist zum Beispiel ein Kandidat für das Bürgermeisteramt, ein nebenberuflicher Trauerredner, der Angestellte eines Call-Centers oder ein ehemaliger Chef des Bundesnachrichtendienstes. Sobald das Material der Erzählung zu einer Rolle verarbeitet wurde, kann es noch so beiläufig oder subjektiv sein – auf der Bühne nimmt es unweigerlich den Charakter einer objektiven, reflektierten und gesellschaftlich relevanten Erfahrung an, die sich das Publikum in Form von Wissen, oder genauer: „Expert*innenwissen“ auch deshalb aneignen kann, weil sie als ein solches benannt und inszeniert ist. Bleibt die Frage, ob uns dieses Wissen tatsächlich „klug“ macht.
Die „Expert*innen des Alltags“ von Rimini Protokoll haben kaum etwas mit Anthony Giddens’ Expert*innen gemein. Auf der Weltbühne der reflexiven Modernisierung machen uns dessen Expert*innen dadurch klüger, dass sie in die Rolle von Mediator*innen schlüpfen und etwas leisten, das man vielleicht am besten eine übersetzende Beratung nennen kann. Sie erschließen Kenntnisse, die sich in Institutionen der traditionellen Wissensproduktion wie Universitäten und Forschungseinrichtungen angesammelt haben, einer größeren Öffentlichkeit. In gewisser Weise übersetzen sie die esoterische Sprache ihrer engen Spezialisierung in die Sprache der Lai*innen. Dabei geht es um viel mehr als bloße Popularisierung. Übersetzen ist – ob innerhalb derselben oder zwischen verschiedenen Sprachen – immer mehr als der bloße Versuch, Menschen einander verständlich zu machen. Es ist eine Gesellschaft bildende und prägende Praxis, das heißt eine, die selbst Sozialbeziehungen knüpft und definiert. So auch in diesem Fall: Indem Giddens’ Fachleute ihr abstraktes Wissen in eine „allgemeine“ Sprache übersetzen, eröffnen sie viele neue Räume zwischen den Geltungsbereichen des Laien- und Expertinnenwissens. Erst dadurch, dass sie das Leben der Menschen in diesen Räumen anders zur Sprache bringen, machen sie die Menschen „klüger“ und schaffen die historischen Voraussetzungen für deren „reflexives“ Leben.
Doch ebenso wie die „rein sprachliche Übersetzung“ sind auch die Sozialbeziehungen, die aus dieser Expert*innenpraxis hervorgehen, bei Weitem nicht vollkommen. Die Fortschrittsteleologie in Anthony Giddens’ Konzept der reflexiven Modernisierung setzt stillschweigend voraus, dass die letztgültige Antwort auf die Frage nach der politischen Ordnung, in der die Menschen leben wollen und sollen, mit dem Kapitalismus und der Demokratie westlichen Typs immer schon gegeben ist. Und genau wie die Logik der Alternativlosigkeit ihre eigene kulturelle und historische Bedingtheit ohne Ausnahme leugnet, bleibt auch die Vision einer langsam und unaufhaltsam gesteigerten Reflexivität, die aus unserem Planeten eine Welt der klugen Menschen macht, blind für ihr eigenes ideologisches Gepäck und ihre Schönfärberei der tatsächlichen Verhältnisse. Das in der reflexiven Modernisierung weltlich gewordene Expert*innenwissen krempelt nicht nur das Gesellschaftsgefüge nach Maßgabe der immer weiter voranschreitenden Globalisierung um, sondern festigt auch lokale und globale Machtverhältnisse und verstetigt damit zugleich die vorhandene Ungleichheit und Fremdbestimmung. Ohne Zweifel gründet das hohe Ideal des Wissens als Grundlage einer besseren zukünftigen Welt auf dem Erbe der Aufklärung, aber es verbirgt uns all den Kot und Schmutz des dialektischen Gegenteils, nämlich die grausame Realität der neoliberalen Globalisierung, der gescheiterten Demokratien und zerrütteten Volkswirtschaften, des chaotischen Zerfalls unserer Weltordnung und der zerstörten Natur. Haben die Expert*innen etwa übersehen, diesen Schmutz in ihre Lehrpläne aufzunehmen? Oder kann man in dieser Welt nur klüger werden, indem man all das aus dem Bewusstsein löscht?
Bei den Theateraufführungen von Rimini Protokoll verbergen die „Expert*innen des Alltags“ das Schmutzige an ihrem Wissen von der Welt nicht. Denn der Ursprung dieses Wissens ist dem ihrer eigenen Körper und der Kontingenz ihrer jeweils einzigartigen Lebenswelt zu nahe. Außerdem ist das dargestellte Wissen in einer gemeinsamen Arbeit der Recherche und Inszenierung entstanden und lässt sich aus deren Ergebnis nicht mehr lösen. […]
Anders als die Fachleute in Giddens’ reflexiver Modernisierung sind die „Expert*innen des Alltags“ von Rimini Protokoll keine Übersetzer*innen von Information aus einem zu esoterischen Code in einen anderen, einfacheren, populäreren, wobei es dann Soziolog*innen überlassen bleibt, aus der Distanz die gesellschaftliche Bedeutung ihres Tuns zu reflektieren. Die „Expert*innen des Alltags“ sind vielmehr die menschliche Verkörperung des Übersetzungsvorgangs selbst und damit auch seiner hybridisierenden Wirkung, seiner Reibungsverluste ebenso wie seiner unerwarteten heuristischen Erträge.
Um den Unterschied zwischen diesen beiden Expert*innentypen zu verstehen, können wir uns zunächst einen typischen Experten in den Massenmedien vergegenwärtigen: einen dieser talking heads, die meist aus irgendeinem politischen Anlass ins Studio geladen werden. Beim Beantworten der Journalist*innenfragen gibt ein solcher Experte in der Regel detailliertere Auskunft über das Geschehen, den geschichtlichen Hintergrund, die beteiligten Personen und den möglichen weiteren Verlauf der Ereignisse. Derartige Experten sind beinahe unersetzlich, wenn es um weltpolitische Ereignisse wie den Krieg in Syrien, die Präsidentenwahl in Frankreich oder die Krise in Venezuela geht. Sie werden von den Sendern engagiert, um uns Zuschauer*innen das Verständnis der Vorfälle und die Orientierung im grenzenlosen Raum der Weltpolitik zu erleichtern. Wir sollen auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen können, insoweit diese Themen in unserem jeweiligen lokalpolitischen Kontext eine Rolle spielen. All das entspricht genau den Aufgaben, die Giddens seinen Expert*innen zugeschrieben hat: die Menschen klüger zu machen und sie so für das Leben in einer globalisierten Welt zu rüsten. Quell ihres Wissens sind, etwa im Fall geopolitischer Ereignisse, meist methodisch heterogene Area Studies.
Ganz anders Rimini Protokolls „Expert*innen des Alltags“, etwa der schon erwähnte ehemalige Chef des BND, dessen Stimme in Top Secret International (Staat 1), einer Theaterproduktion über die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung des Geheimnisses, zu hören ist: Er erzählt von seinen Erlebnissen an der Spitze seiner Organisation. „Es gibt keinen sauberen Nachrichtendienst“, sagt er irgendwann. „Es wird gelogen, verraten, betrogen, korrumpiert“.
Diese Erkenntnis eines „Experten des Alltags“ ist keineswegs unschuldig. Denn sie ist nicht von dem Kot und Schmutz gereinigt, aus dem sie gewonnen wurde.
Das ist nun der Moment, um daran zu erinnern, dass auch die Area Studies nicht unschuldiger Herkunft sind, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg im unmittelbaren Zusammenhang mit der Politik amerikanischer Präsidenten, Behörden und Nachrichtendienste entstanden. Der Schmutz des Kalten Krieges am vermeintlich sauberen und unschuldigen telos des regionalwissenschaftlichen Sachverstands kam allerdings erst vor Kurzem zum Vorschein.
Das Wissen der „Expert*innen des Alltags“ kommt nicht nur woanders her, sondern zielt auch woanders hin. Man könnte so weit gehen, es eine „emanzipatorische Entsublimierung“ zu nennen – eine Art Entleibung sowohl des Fachwissens, das uns angeblich klüger macht, als auch der höchsten Ideale jener liberal-demokratischen Ordnung, innerhalb derer dieses Wissen seinen letztgültigen Normenhorizont gefunden hat. […]