Kulturmenschen versus alle anderen

Die mit dem Etikett des Anthropozäns verbundene Anerkennung einer singulären Stellung des Menschen geht paradoxerweise einher mit einer Infragestellung genau dieser Sonderposition. Wir erinnern uns daran, dass die Grenze zwischen „ihnen“ und „uns“ noch vor gar nicht so langer Zeit anders gezogen wurde, beispielsweise zwischen uns „Zivilisierten“ und den „Wilden“.

So wurde zwischen 1879 und 1935 das Basler Publikum mit sogenannten Völkerschauen im Basler Zoo unterhalten. In diesen Darbietungen wurden außereuropäische Menschen in traditioneller Kleidung, vor gebastelten Hütten, mit ihren Werkzeugen etc. gezeigt. Diese Schauen zogen damals mehr Besucher*innen an als die Tiere des Zoos. Die Organisator*innen der Völkerschauen waren in der Regel Tierhändler*innen und Zoodirektor*innen. Die zur Schau gestellten Menschen wurden oft aus dem Sudan rekrutiert, einer Region, in der auch die meisten afrikanischen Zoo- und Zirkustiere gefangen wurden. Die Organisator*innen achteten darauf, dass die ausgestellten Individuen keine europäische Sprache beherrschten, so dass eine verbale Kommunikation zwischen den Zoobesucher*innen und den Ausgestellten unmöglich war. Geburten und Babys waren als Publikumsmagnet willkommen. Die Basler Nachrichten vom 18. Juni 1887 schrieben: „Vor ihren Hütten kauern halbnackt mehrere braune Gestalten, in ihrer Körperentwicklung, dieser Umgebung und dieser Draperie stark an das Affengeschlecht erinnernd.“

Dieses zeitlich nicht allzu weit zurückliegende Freizeitvergnügen ist nur ein Beispiel dafür, dass die europäische Öffentlichkeit die „Wilden“ eher auf eine Stufe mit Wildtieren als mit Menschen stellte.

Verschiebung der juristischen Grenze?

Der Rückblick auf die Völkerschauen zeigt nicht nur, dass vor 80 Jahren offenbar eine Kluft zwischen Europäer*innen und „primitiven“ Menschen wahrgenommen wurde, sondern illustriert auch, wie dynamisch sich unsere Auffassung von Menschenwürde in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Eine Völkerschau der beschriebenen Art wäre heute in Europa undenkbar, sie würde gesetzlich verboten oder von Gerichten für menschenrechtswidrig erklärt. Damit sind wir beim wichtigsten juridischen Element, das die rechtliche Kluft und die damit einhergehende rechtliche Rangordnung zementiert, nämlich den juridischen Rechten: Menschen werden Rechte zuerkannt, Tieren nicht.

Ist es zu wünschen und ist damit zu rechnen, dass wir in abermals 80 Jahren mit ebensolchem Befremden an eine historische Praxis der Gefangenschaft und Tötung von Tieren in Zoos, Zirkussen, Schlachthäusern und Versuchslabors zurückdenken werden, eine Praxis, die wegen der Verletzung von Freiheitsrechten und Würde der Tiere verboten wurde? Dies setzte die Anerkennung von subjektiven Rechten von Tieren voraus. Subjektive Rechte bieten wegen ihres überschießenden Gehalts, insbesondere der Unbestimmtheit der aus ihnen fließenden Pflichten, einen stärkeren Schutz als die im geltenden Recht verankerten konkreten und punktuellen objektivrechtlichen Pflichten zur Beachtung des Tierwohls.

Tierrechte sind als juristische Figur systemkonform konstruierbar. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass ursprünglich nicht nur die indigenen Völker (von denen einige Exemplare den Basler Zoo bestückten), sondern auch Besitzlose, Frauen, Kinder, Ausländer*innen und so weiter nicht als rechtsfähig galten. Seitdem ist jedoch die Rechte-Gemeinschaft etappenweise ausgeweitet worden. So gesehen, vor dem Hintergrund der Volatilität der Mensch-Tier-Grenze, könnten auch nicht menschliche Lebewesen prinzipiell als „(Rechts-) Personen“ anerkennbar sein. Dieser Schritt wirft aber neue Fragen auf: Welche Tiere wären dies: Alle empfindungs- und erlebensfähigen Tiere? Nur Menschenaffen und Meeressäugetiere? Und welche Rechte müssten ihnen zugesprochen werden: Schutz vor Folter, ein Recht auf Leben?

Die Legalisierung von Gewalt gegen Tiere

In westlichen industrialisierten Gesellschaften sind die aus Tieren gewonnenen Lebensmittel aufgrund der industrialisierten Produktion lächerlich billig. Die durchschnittlichen Ausgaben eines europäischen Haushalts für Lebensmittel betrugen im Jahr 2012 nur 13 Prozent, während noch in den 1950er Jahren ein Drittel bis die Hälfte des Haushaltseinkommens für Essen ausgegeben wurde. Durchschnittliche europäische Verbraucher*innen verlangen billige Produkte mit bestimmten Eigenschaften. Beispielsweise werden in der Schweiz (wie in anderen europäischen Ländern auch) die männlichen Küken der Legehennen unmittelbar nach der Geburt getötet, weil sie nicht als Fleischhuhn verkäuflich sind. Ruedi Zweifel, Direktor des Aviforums, des Kompetenzzentrums der schweizerischen Geflügelwirtschaft in Zollikofen, sagt: „Der optische Aspekt spielt die entscheidende Rolle […] Der Schlachtkörper heutiger Legehähne entspricht nicht den Erwartungen der Konsumenten. Er ist nicht herzförmig, sondern spitz.“ (Markus Hofmann, „Das kurze Leben der Legehenne“, in: Neue Zürcher Zeitung, 23. März 2013) Die neugeschlüpften Schweizer Hähnchen werden in der Regel „homogenisiert“, das heißt geschreddert, was nach der schweizerischen Tierschutzverordnung, einem der strengsten Reglements der Welt, ausdrücklich erlaubt ist. Dasselbe geschieht in Deutschland, nach der einschlägigen EU-Verordnung unter der Überschrift „Unmittelbare Zerstückelung des gesamten Tieres”. Hierzulande werden 50 Millionen Hähnchen jährlich zerstückelt. Die Verordnung zur Kükenhomogenisierung ist nur eines der Beispiele dafür, wie das Recht die Ausbeutung, Diskriminierung und Auslöschung von Tieren ermöglicht und verfestigt.*

Befreiung von Tieren durch das Recht

Das Recht hat – umgekehrt – auch das Potenzial, zur Bekämpfung und Beendigung der Ausbeutung, Diskriminierung und Auslöschung von Tieren beizutragen. Das Wohlergehen von Tieren, ihre Bedürfnisse und eventuell Rechte sind nicht nur eine Frage sozialer Gerechtigkeit, sondern auch von globaler Gerechtigkeit. Die zentralen Herausforderungen, denen wir uns in unserem Umgang mit Tieren stellen müssen, sind globaler Natur: Es geht um Nachhaltigkeit, Klima, Artensterben, Armut und Mangelernährung – sämtlich globale Probleme. Die tierverarbeitende Industrie (Nahrung und Pharma) ist eine globale Industrie. Der Handel mit Tieren und Tierprodukten ist global. Ein einzelner Staat kann beispielsweise Standards für Käfighaltung oder für Tierversuche gar nicht im Alleingang verbessern, weil sich die betroffenen Industriezweige durch Standortverlagerung strenger Regulierung entziehen können. Wenn einzelne Staaten versuchen, diese volkswirtschaftlich relevanten Branchen durch ein attraktives Rechtsumfeld im Land zu halten, besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale der Standards, zulasten des Tierwohls. Schließlich beeinflusst internationales Recht die einzelstaatlichen Optionen tierbezogener Maßnahmen. So schränken die Freihandelsabkommen der Welthandelsorganisation (WTO) die Möglichkeit von Importverboten für Waren, die auf tierquälerische Weise hergestellt wurden, ein. Beispielsweise hat das WTO-Schiedsgremium einzelne Aspekte des EU-Importverbots für Robenfellerzeugnisse kürzlich für rechtswidrig erklärt, so dass die EU dieses Reglement anpassen muss. Aus alldem folgt, dass Rechtsregeln zur Verbesserung des Tierwohls nur dann wirksam sein werden, wenn sie globale Geltung haben.

Parallele Treiber der Rechtsentwicklung

Die Weiterentwicklung des Rechts hängt nicht nur von konkreten Inhalten ab, sondern von weiteren Faktoren und von Akteuren. Auch auf dieser Ebene können Parallelen zwischen Menschenschutz und Tierschutz entdeckt und eventuell rechtspolitisch genutzt werden. Treiber der Rechtsentwicklung sind, erstens, nichtmaterielle Faktoren: Ideale, Überzeugungen und Prinzipien sowie Interessen, Präferenzen, Gewohnheiten und schließlich naturwissenschaftliche Kenntnisse. Daneben stehen, zweitens, die materiellen Faktoren: Ökonomische Anreize, Pfadabhängigkeit, Interdependenz, Globalisierung und Standortkonkurrenz. Die maßgeblichen Akteur*innen sind die rechtssetzenden Institutionen (für das Völkerrecht primär die Regierungen von Staaten), die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft. Es ist heute ein Gemeinplatz, dass Reformen nur in gemeinsamer Anstrengung dieser Akteursgruppen realisiert werden können.

Anthropozän und animal turn

Freiheit und Rechte sind weder vom Himmel gefallen, noch wurden sie den unterprivilegierten Menschen von der Elite freiwillig geschenkt. Die Beachtung der Menschenrechte wurde vielmehr von den Entrechteten und Geknechteten selbst – aufbauend auf der gedanklichen Vorarbeit von Philosoph*innen, Staatstheoretiker*innen und Jurist*innen – gegen das Establishment und gegen die herrschende Kultur erkämpft. Hier liegt natürlich ein Unterschied zu den Tierrechten, die von den Betroffenen niemals selbst mit juristischen Argumenten eingefordert werden können – aber dies geht Kindern und den meisten unterdrückten Menschengruppen nicht anders, sie sind in aller Regel auf professionellen Beistand angewiesen.

Um das Rad nicht neu zu erfinden, sollten in der Tierrechtsdiskussion die in Bezug auf Menschenrechte bereits formulierten Argumente aufgegriffen und nötigenfalls angepasst werden. Es sollten auch die soziologischen und ökonomischen Randbedingungen, die Erfolgsfaktoren und Entwicklungshemmer der Menschenrechtsdiskurse und der Menschenrechtspraxis in den Blick genommen werden. Die Risiken, aber auch die Chancen der Tierwohl- und Tierrechtsbewegung können dadurch genauer ausgelotet und der offensichtlich destruktiven Kraft der Spezies Mensch entgegengestellt werden.

*Anm. d. Red.: Eine neue Technologie soll das Töten männlicher Küken künftig überflüssig machen. Ab wann diese in Brutbetrieben in Deutschland eingesetzt werden kann, ist derzeit nicht klar. Von der Politik angestrebt wird der 1.1.2019. (Stand Mai 2018).