Die Geschichte beginnt in einem Getreidefeld. Es ist 1992, und an der Grenze zwischen Deutschland und Polen liegen zwei tote Rumänen. Das Feld hinter ihnen steht in Flammen. Als Philip Scheffner zum ersten Mal von der Sache hört, ist er mit anderen Projekten beschäftigt. Doch das Bild des brennenden Feldes geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Einer der beiden Männer, die dort bei einem angeblichen Jagdunfall ums Leben gekommen sind, heißt Grigore Velcu. Knapp 20 Jahre nach dessen Tod sitzt Philip Scheffner mit Velcus Sohn Colorado in einem Wohnzimmer in Faţa Luncii, Rumänien.
„Ich war absolut skeptisch“, sagt Velcu heute über ihr erstes Treffen. Mittlerweile lebt er in Berlin, kommt oft in Scheffners Kreuzberger Studio vorbei. Aber damals, im Sommer 2010: „Da saßen all diese fremden Menschen in unserem Wohnzimmer – Kameramann, Regisseur, Fahrer. Und nach Jahren wollten sie etwas über den Tod meines Vaters erfahren.“ Warum? „Wenn ich in dem Moment das Gefühl gehabt hätte, Philip würde mir nicht zuhören, ich hätte sofort alles abgebrochen.“ Aber Scheffner schafft es, Velcu zu erklären, wie viel ihm an dem Projekt liegt. Dass ihn der Fall seines Vaters interessiert, weil die deutschen Behörden ihn vor vielen Jahren kaum wahrgenommen haben. Dass er wissen will, was aus den Familien der Opfer geworden ist, die damals nicht einmal kontaktiert wurden. Und dass Dinge, die vertuscht worden sind, nun zumindest mit einem Film an die Öffentlichkeit kommen. „Das fand ich ok“, sagt Velcu knapp.
In einer der ersten Szenen von Revision (2012), Scheffners Film über Velcus Vater, sitzt Colorado Velcu mit seiner Mutter und einem Bruder auf dem Sofa und erzählt von der Familie. Nach ein paar Sätzen bricht er ab. „Ich denke, wir sollten die Aufnahmen einzeln machen, dann können wir freier sprechen“, sagt er. Es ist der erste Aufnahmetag, und schon da ist Scheffner klar, mit wem er es zu tun hat. Mit einem Mann, der sehr genau weiß, was er will. Und der das Medium Film versteht.
Was in den kommenden Wochen folgt, ist zähe Annäherung. Die Vorurteile auf beiden Seiten sind groß. Und für die Familie Velcu geht es um eine schmerzvolle Aufarbeitung. Nach langen Recherchen begreifen sie, dass sie an keiner Stelle der Ermittlungen einbezogen wurden. Dass Zeug*innen, die zusammen mit Velcus Vater auf dem Feld standen, nie befragt wurden. Dass die Schützen schließlich unter fragwürdigen Umständen freigesprochen wurden. Und wie groß die Gleichgültigkeit gegenüber Roma wie ihnen ist.
Doch etwas ganz anderes lässt den Funken schließlich überspringen. Irgendwann findet Scheffner heraus, dass die Velcus begeisterte Cineast*innen sind und etwas mit ihm teilen: die Liebe zum Bollywood-Kino. Vor allem Scheffner und Colorado Velcu fachsimpeln von da an über gute und schlechte Schauspieler*innen, tauschen DVDs aus, gucken zusammen Filme.
„Hier sieht’s ja aus wie im Bollywood-Film“, hört man einen Jugendlichen vom Rücksitz eines Autos. Es ist 2014, die Velcus fahren von Essen nach Berlin, vorbei an gelben Rapsfeldern und Kleinstadtidyllen. Wieder sitzt Scheffner daneben und dreht. Nachdem Revision abgeschlossen und mit allen Beteiligten bei der Berlinale gezeigt worden war, ist Velcu mit Scheffner in Kontakt geblieben. Als er in Rumänien keine Perspektive mehr für sich und seine sieben Kinder sieht, hilft der Filmemacher ihm, den Umzug nach Deutschland zu organisieren.
Scheffner dokumentiert die Ankunft von Velcu, seinen beiden Schwestern und deren Familien: wie sie zunächst notdürftig und in kaum bewohnbaren Unterkünften in Essen leben, bis sie schließlich nach Berlin kommen. „Irgendwie war es für uns alle leichter, wenn die Kamera im Raum war“, sagt Scheffner. „Vielleicht, weil wir uns über das Filmen kennengelernt haben. Ich denke, die Familien hätten sonst auch gar nicht recht gewusst, was sie mit mir anfangen sollen. Mich zum Essen einladen, mir eine Übernachtung anbieten?“
In Berlin schenkt Scheffner Velcus ältester Tochter eine Kamera, mit der sie ein digitales Tagebuch führen kann. Als er die ersten Aufnahmen sieht, ist er überrascht. Nicht allein Noami filmt sich, ihre Brüder, Cousins, Tanten und Onkel. Sondern jeder in der Familie scheint zur Kamera zu greifen – vor allem Colorado Velcu. Das Material beeindruckt Scheffner, und zusammen mit Velcu fasst er einen Plan. Gemeinsam wollen sie einen Film über die erste Zeit in Berlin machen. Die Familie soll das meiste filmen, aber auch Scheffner dreht weiter. Der RBB schaltet sich ein, es werden Kameras besorgt und an alle Beteiligten verteilt. Ein großes Abenteuer.
Schon nach wenigen Monaten aber ziehen Velcus Schwestern mit ihren Familien nach Spanien weiter. In Deutschland war es schwieriger als erwartet. Jetzt wollen sie es als Erntehelfer*innen probieren. Mit sieben Kindern bleibt ihr Bruder zurück, muss bürokratische Hürden und Geldsorgen plötzlich alleine meistern. Es sind die intimen Momente des Films, wenn er um halb sechs Uhr abends geschafft von der Baustelle kommt, Briefe von der Familienkasse öffnet und erzählt, dass der Lohn nicht rechtzeitig kommt. Wenn er am Küchentisch sitzt, überlegt, wie es weitergehen soll – ohne Kindergeld, Schulplätze, mit 150 Euro, die sie seit Wochen zum Überleben haben.
Scheffner erfährt von diesen Krisen oft erst nach Wochen. Ein- bis zweimal im Monat treffen sich die beiden zum Sichten des Filmmaterials. Zusammen sitzen sie vor dem Bildschirm und schauen sich Szenen an, die Scheffner teils zum ersten Mal sieht. Auch von den existenziellen Nöten der Familie hört er meist zeitverzögert. Als Dokumentarfilmer hat er seinen Protagonist*innen gegenüber Verantwortung. Doch vor allem finanzielle Hilfe würde Velcu nie annehmen, sagt er. Seine Unabhängigkeit ist ihm wichtig, im Leben wie beim Filmen. Auch in der Zusammenarbeit zeigt sich das immer wieder. „Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich wir auf manche Szenen reagiert haben, auch, was wir in der Zwischenzeit alles nicht voneinander mitbekommen haben“, erzählt Scheffner. In langen Gesprächen entscheiden sie, welche Episoden in den finalen Schnitt kommen sollen.
Das Ergebnis ist der Film „And-Ek Ghes …“, der trotz allem nicht die existenziellen Nöte seiner Protagonist*innen in den Vordergrund stellt. Es ist ein Film, der die intime Normalität eines Familienalltags zeigt. Man kommt dieser Familie nahe, wenn Velcu mit seinen Kindern schimpft und sich das Lachen nicht verkneifen kann, weil die Szene gestellt ist. Wenn er genervt mit den Augen rollt, weil niemand aufgeräumt hat. Wenn er das Autoradio aufdreht und singt, weil das Kindergeld endlich da ist. Wenn der Spaß an der Selbstinszenierung offengelegt wird und die Kamera selbst schon wie ein Familienmitglied wirkt. Längst ist sie für Velcu und Scheffner nicht mehr Hilfsmittel zur Vermessung ihrer ungewöhnlichen Beziehung. Nach zwei Filmen brauchen sie die Kamera nicht mehr.