Wann begann Ihr langes, forschungsbasiertes Tigerprojekt?

Ho Tzu Nyen: Die Idee für das Projekt über Tiger hatte ich ungefähr im Jahr 2003. Damals drehte ich gerade meinen ersten Film, über Sang Nila Utama, den vorkolonialen Gründer Singapurs, der dem Land seinen Namen gab. „Singa“ bedeutet in Sanskrit Löwe, „pore“ Stadt, Singapur heißt also die Löwenstadt. Es heißt, Utama habe einen Löwen an der Küste gesehen, als er zum ersten Mal auf die Insel kam. Also nannte er Singapur die Löwenstadt. Es gab nur gar keine Löwen in Singapur. Es muss ein Tiger gewesen, denn Singapur war damals voll mit Tigern. Aber das ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Die ganze Geschichte ist ein Mythos. Ich habe also einen Film über Sang Nila Utama gemacht, und damals entstand das intensive und anhaltende Bedürfnis, auch ein Projekt zur Geschichte der Tiger Singapurs zu machen. Im Jahr 2003 begann ich dann zu recherchieren und Material zu sammeln.

Was genau brachte Sie dazu, die Geschichte ihres eigenen Landes zu erforschen?

Ho Tzu Nyen: Wenn man an Singapur denkt, ist der Tiger meiner Meinung nach deshalb ein interessanter Ausgangspunkt, weil man durch ihn die Geschichte aus einer nichtmenschlichen Perspektive betrachten kann. Wenn man aus der Perspektive des Tigers über Geschichte spricht, erhält man eine andere Erzählung, nämlich eine über das Schicksal der Tiere. Als die Briten im neunzehnten Jahrhundert nach Singapur kamen, wollten sie Plantagen anlegen. Um das zu tun, gingen sie in die Wälder. Dort begannen Tiger, die Menschen anzugreifen, da mit dem Anlegen von Plantagen so etwas wie eine Übergangszone zwischen Wald und Nicht-Wald geschaffen wurde. Aufgrund des dichten Blattwerkes leben Tiger ungern in Wäldern. Deshalb stießen die Menschen nun öfters auf sie und die Tiger griffen die Menschen an. Im neunzehnten Jahrhundert begannen die Briten Tiger zu jagen und zu töten.

Einigen Berichten zufolge starben auf den Plantagen 300 Menschen pro Jahr durch Tigerangriffe. Die Menschen fürchteten sich deshalb vor der Plantagenarbeit, und so wurde der Tiger in Singapur ausgerottet. Nachdem der letzte Tiger Singapurs zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert getötet worden war, trat er als Metapher wieder in Erscheinung. Yamashita Tomoyuki war während der japanischen Besetzung Singapurs der Führer der 25. Armee. Sein Beiname war „Tiger von Malaya“. Wie Sie sehen, kam der Tiger als Metapher zurück, um Menschen zu beschreiben. Auch die malaysischen Kommunisten, die aus den Wäldern heraus gegen die Briten kämpften, wurden oft als Tiger bezeichnet. Für mich spürt das Projekt gewissermaßen den mythischen und den echten Tigern nach und beschäftigt sich mit dem Tier als sprachliche Metapher. Es ist ein Versuch, die Geschichte von Singapur und Malaysia durch eine etwas andere Perspektive zu erzählen. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Mensch, Natur und Kultur.

Sie nehmen in Ihrer Arbeit interessanterweise die Perspektive der Tiere ein. Der menschlichen Perspektive scheinen Sie kritisch gegenüberzustehen. Woran liegt das?

Ho Tzu Nyen: Ja, das ist eine gute Frage: Es gibt diese unbedingte Kritik an der menschlichen Perspektive, aber man sollte auch nicht vergessen, dass wir die Dinge nie gänzlich aus der tierischen Perspektive betrachten können, das wäre eine Illusion. Deshalb haben wir uns über das Konzept des Wertigers angenähert – halb Tiger, halb Mensch. Man muss zum Teil Tiger werden und das Menschliche verlieren. Es geht darum, mit einem anderen Lebensformat gemeinsam über Geschichte nachzudenken. Zum Beispiel gibt es eine digitale Außenhaut, die im Gegensatz zu den Bewegungen der Figur vollständig computergeneriert ist; die Animation wurde aus den Bewegungen des Performers generiert und er ist gleichzeitig auch der Sänger.

Für die Animation dieser computergenerierten, digitalen Hülle zeichnen wir seine Bewegungen auf während er ein Lied singt. Unter der Außenhaut befindet sich also ein menschlicher Geist. Aber der Körper, die Hülle, ist digital. Für mich gehört das zum Konzept des Animismus. Ein Geist kann von einem Stein zu einer Person wandern. Geist und Körper sind getrennt. Das Konzipieren von Bildern ist für mich ein besonders wichtiger Prozess. Wir haben auf der einen Seite die Projektion eines Tigers und auf der anderen Seite die Projektion eines Menschen. Aber beide Stimmen gehören zu ein und demselben Wesen, die Bewegungen kommen von demselben Wesen.

Die Musik und die Klangeffekte Ihrer Installation sind sehr beeindruckend.

Ho Tzu Nyen: Die Musik habe ich gemeinsam mit einem Freund namens Vindicatrix komponiert. Er ist ein britischer Sänger, aber später habe ich erfahren, dass er auch malaysischer Herkunft ist. Da die Texte von mir stammten, gab ich ihm beim Singen manchmal Anweisungen, um sie nach meinen Vorstellungen klingen zu lassen. Ich bestimmte oft das Timing. Aber es war immer faszinierend zu sehen, wie er meine Anweisungen deutete und veränderte.

Welche Rolle spielen Gesang, Musik und Klang in Ihrem Werk?

Ho Tzu Nyen: Eigentlich eine sehr wichtige. Zwischen 2009 und 2011 gab es in meinem Werk weder Sprache noch Text. Ab 2011 begann ich dann, zunächst in der Form eines Liedes, Sprache in meiner Arbeit einzusetzen. In meinen Augen bewohnen Stimmen Körper, ich sehe das ungefähr so, wie Animist*innen den Geist denken. Aber auf der anderen Seite interessiert mich Sound als ganz eigenes Feld. Bei dieser Arbeit sagte ich deshalb gleich zu Beginn zu Anselm Franke, dem Kurator der Ausstellung, „es wird laut werden.“ Die extreme Lautstärke und die besonderen Frequenzen schaffen eine spezielle Intensität, die von manchen Menschen als drückend oder beklemmend empfunden wird, andere finden sie halluzinogen und schön.

One or Several Tigers war ein vierzehnjähriges Forschungsprojekt. Welche Überlegungen nehmen Sie rückblickend mit?

Ho Tzu Nyen: Wenn Sie von vierzehn Jahren Arbeit an dem Projekt sprechen, klingt das ganz schön ernst. Während dieser vierzehn Jahre habe ich mich auch viel mit anderen Dingen befasst. Mit dem Tiger habe ich mich deshalb so lange beschäftigt, weil ich das Gefühl hatte, die Geschichte nicht abschließen zu können; es gab noch etwas, was ich erzählen wollte. Ich denke, etwas Wesentliches, was ich verstanden habe, ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Tiger unerschöpflich ist und man sich letztlich nur in einem bestimmten Zustand der Unfertigkeit von ihm entfernen kann. Aber vielleicht ist das auch meine Art, mit Geschichte umzugehen und in einem Zwischenbereich der Unsicherheiten zu verweilen – wie jemand, der die Geschichte eines flüchtigen Wertigers aufspürt.