Der Körper existiert nicht wirklich im Singular, es gibt stets mehrere Körper: meinen Körper, deinen Körper, ihre Körper, unsere Körper. Körper in der Öffentlichkeit, in Wartezimmern, Wahllokalen, Hör- und Operationssälen; Körper (Menschen) im Krieg, Körper (Menschen), die Meere in Richtung Europa durchqueren, eingesperrte, protestierende oder verliebte Körper (Menschen). Wiederständig und zerbrechlich, zunehmend steuer-und austauschbar und dennoch voller Wissenslücken. Ein optimales Ganzes, ein gähnende Leere.
Bereits das Wort “Körper” erzählt von einem Gefäß, von physischer Beschaffenheit und der Erfüllung von Erwartungen, Funktionen und Bedeutungen. Wir bewegen uns nicht als Geist, sondern als Körper durch die Welt, als physisches Selbst, dessen ständige Interpretation durch andere über Charakteristika wie Hautfarbe, Geschlecht und äußerer Erscheinungsform unvermeidbar ist. Jede Interaktion ist eine Verschränkung von Denken und Körper. Doch was passiert, wenn unser Körper uns Grenzen aufzeigt, wenn wir durch ihn das Gefühl von Mangel erleben?
Kader Attias film Réfléchir La Mémoire / Reflecting Memory (Die Erinnerung Reflektieren, 2016) wurde als Teil der Reihe Wörterbuch der Gegenwart, im Rahmen der Veranstaltung Körper, passenderweise im Anatomischen Institut der Berliner Charité, zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Der Film ist rund um das Phänomen der „Phantomgliedmaße“ aufgebaut. Bei Phantomgliedmaßen entsteht der oft als Schmerz empfundene Eindruck, der amputierter Körperteil sei nach wie vor vorhanden. Vermutlich liegt es daran, dass das Nervensystem durch ausbleibende Empfindungen durcheinander gerät. Die Signale der Nervenenden des fehlenden Körperteils lösen Empfindungen aus, die physisch tatsächlich „falsch“ sind. Es scheint einfacher, den Körper als Informationskreislauf wahrzunehmen, als sich eine Unterbrechung dieser Kreisläufe vorzustellen.
Diese, über eine medizinische Analogie erzählte, Bewegung vom einzelnen Subjekt hin zum „mythischen, figürlichen Körper“ der Gesellschaft macht den Film zu einem Teil von Attias umfassender Forschung über das Konzept der Reparatur. Ein Konzept, das sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinn zu verstehen ist; als ein dynamischer „Prozess, der zwei Situationen vereint,“ die Vergangenheit und die Gegenwart, das Selbst und das Andere. Attia verweist auf die Doppelbedeutung des französischen Begriffs réparer, der sowohl den mechanischen Vorgang der Reparatur bezeichnet – wie repair auf Englisch und reparieren auf Deutsch – als auch den moralischen Aspekt der Rückvergütung, der Entschädigung. Der Film verbindet, in Form von Interviews mit Chirurg*innen, Psychoanalytiker*innen, Kulturwissenschaftler*innen und -produzent*innen, individuelle Amputationserfahrungen und ihre psychologischen Folgewirkungen im Dialog mit den fehlenden Teilen kollektiver (post)kolonialer Erinnerung.
Dabei werden Assoziationen entlang repetitiver, präziser chirurgischer Gesten und anhand der Sequenzen eines Balletttänzers aufgespürt, der beschreibt, wie er sich im Spiegel hinter der Stange selbst betrachtet, um seine Körperposition vollständig wahrzunehmen. Hinsichtlich der Musikproduktion wird erklärt, wie sich das Musikgenre des Dub aus dem Reggae heraus entwickelte: dass die B-Seiten des Dub nur Fragmente des ganzen Stückes enthalten und eine Art wiederklingendes Skelett sind, dessen Räume rund um den Rhythmus „Phantomtöne“ herbeirufen können. Aus psychologischer Perspektive wird erläutert, dass die Phasen individueller Trauerarbeit mit jenen von trauernden Gemeinschaften vergleichbar sind; zum Beispiel nach Genoziden; man wird stets von der Abwesenheit der verlorenen Menschen verfolgt. Der gemeinsame Nenner: etwas Wichtiges ist verloren gegangen und es schmerzt – wie kann man mit dem Schmerz umgehen oder ihn wiedergutmachen?
Die Antworten der Interviewten (Attias Fragen sind nicht zu hören und er selbst befindet sich außerhalb des Bildes) wechseln sich mit tonlosen Aufnahmen stiller Körper ab – auf Knien beim Gebet in der Kirche, im Schatten eines Mahnmales, vor einem halbierten runden Brot im Café. Diese Momente bieten die notwendigen Pausen für die Verarbeitung des gerade Gesagten. Gegen Ende des Filmes stellt sich heraus, dass einige der Beteiligten, darunter DJ und Balletttänzer, Amputierte sind. Mit Hilfe von Spiegeln waren die verlorenen, aber nach wie vor gefühlten, Gliedmaße zum Leben erweckt worden. Diese tatsächlich angewendete Therapie gegen Phantomschmerz ermöglicht es den Betroffenen, wie in einem der Interviews erklärt wird, sich an ihren „ganzen“ Körper zu erinnern. In diesem Moment der Erkenntnis finden sich die Betrachter*innen mit ihrer eigenen Vorstellung eines funktionierenden Körpers konfrontiert. Es geht darum, zu begreifen, wie schwierig es ist, etwas zu klären, das unter erzwungener oder unfreiwilliger Amnesie nicht erinnert oder erfassbar werden kann.
Metaphern vermögen gegenwärtigen Strukturen einen Spiegel vorzuhalten, aber sie können auch eine Illusion hervorrufen. Im Licht von Françoise Vergès anschließender Diskussion und in Hinblick auf die Komplexität der Kolonialgeschichte, erscheint die Analogie der Phantomgliedmaßen fast etwas verharmlosend. Es wurde kein einzelner Körperteil abgetrennt, sondern eine kartografische Assemblage von Orten zerstört und Körper wurden verstümmelt. Wie aus dem Publikum angemerkt wurde, können auf die Gesellschaft angewendete Körpermetaphern Handlungsfähigkeit und Verantwortungsgefühl erzeugen und unerwünschte Assoziationen mit der Vorstellung eines einheitlichen sozialen Körpers aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mit sich bringen. Attia weiß allerdings nur zu gut, dass die Sichtbarkeit der vergangenen Wunden und die Nahtstellen der Reparatur als fortdauerndes Mahnmal des Traumas wirken, das sie repräsentieren.
Aktive Reparaturleistung muss heute, unterstreicht Vergès, nicht nur die Verfehlungen der europäischen Vergangenheit sondern auch die der europäischen Gegenwart in Betracht ziehen. Die Arbeit der Wiedergutmachung, so Vergès, beginnt zuallererst mit der Einsicht, dass ein Zuckerstückchen nicht nur süß ist, sondern auch vor Blut trieft – nach wie vor Blut der Gewalt und Ausbeutung. Es geht darum, zu verstehen, dass manche Wunden zu tief sind, um jemals heilen zu können und zum Teil durch aktuelle politische Ereignisse immer wieder aufgerissen werden. Kunst, wie die Attias, die in dekolonialem Denken begründet ist, kann ein erster Schritt sein, um die „normative Macht“ und den eurozentrischen „Mythos der Perfektion“ auseinanderzunehmen. Doch darüber hinaus muss, wenn es irgendeinen Sinn – oder ein Gefühl – der Wiedergutmachung geben soll, echte Arbeit auf der Straße und zwischen den Körpern (Menschen) stattfinden – in den Institutionen, zu Hause, und im Alltag, im unterstützenden und solidarischen Handeln.