Zufällig tauchten erste Nachrichtenmeldungen über einen mutmaßlichen russischen Hack der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten auf, als ich die neueste Produktion von Rimini Protokoll, Top Secret International (Staat 1), im Brooklyn Museum in New York besuchte. Während ich mich in ihrer Inszenierung in die altägyptischen Exponate vertiefte, veröffentlichten die US-Geheimdienste einen Bericht, laut dem der russische Präsident Wladimir Putin eine „Kampagne zur Einflussnahme“ angeordnet hatte, zu der Cyberangriffe auf das Democratic und Republican National Committee gehörten sowie die strategische Verbreitung von Informationen zur Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahlen 2016.
Dem Bericht zufolge „verfolgte Russland das Ziel, das öffentliche Vertrauen in den demokratischen Prozess der USA zu untergraben, die ehemalige Außenministerin Clinton zu verunglimpfen und ihrer Wählbarkeit und möglichen Präsidentschaft zu schaden.“ So schockierend diese speziellen Enthüllungen auch sein mögen: Versuche, demokratische Institutionen wie Regierungen mit ihren Beamt*innen, die freie Presse und die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben, sind im 21. Jahrhundert mittlerweile recht weit verbreitet.
Im Jahr 2000 prägte der Politikwissenschaftler Colin Crouch den Begriff der „Post-Demokratie“. Damit bezeichnet er Gesellschaften, in denen die Systeme liberaler Demokratie voll funktionsfähig sind und doch zunehmend von einer immer kleiner werdenden Elite kontrolliert werden. In einer Reihe von Büchern und polemischen Essays vertrat Crouch die Ansicht, dass selbst stabil und sicher aufgestellt scheinende Demokratien anfällig werden könnten für eine autokratische Herrschaft. Anfang 2017 scheinen seine Bedenken nur zu begründet. Auch die Politikwissenschaftler Roberto Stefan Foa und Yascha Mounk lieferten vor kurzem ähnliche Argumente dafür, dass das Fortbestehen zeitgenössischer Demokratien nicht als sicher betrachtet werden kann. In ihrem Essay The Danger of Deconsolidation (Juli 2016) demonstrieren sie, dass das Vertrauen in demokratische Regierungssysteme weltweit vor allem unter den jüngeren Generationen abnimmt.
„Es ist noch gar nicht lange her, da waren junge Menschen weitaus begeisterter von demokratischen Werten als ältere Menschen“, schreiben sie. „Mittlerweile sind die Rollen umgekehrt: Insgesamt ist die Unterstützung für politischen Radikalismus in Nordamerika und Westeuropa unter den Jungen höher und die Unterstützung für die Redefreiheit geringer.“ Obwohl ein Zusammenhang nicht notwendigerweise die Ursachen erklärt, lassen sich diese Verschiebungen unmöglich betrachten, ohne die gleichzeitige Zunahme an digitalen Technologien und Kommunikationsmöglichkeiten zu berücksichtigen – insbesondere unter den Demografien, die Foa und Mounk als besonders offen für regierungsgeführte Alternativen zur Demokratie beschreiben. Vor dem Hintergrund kontinuierlicher „Fake News“-Meldungen, Manipulation von Wählerstimmen über soziale Medien, immer mehr Autokratien und der weltweiten Gefährdung von Demokratien könnte die Produktion von Rimini Protokoll zeitlich kaum passender sein.
Top Secret International stellt einen ausdrücklichen Zusammenhang zwischen internationaler Spionage, digitaler Überwachung und Performance her, um auf die Auswirkungen dieser Überschneidungen für die zeitgenössische Politik zu verweisen. Die teils als immersive Performance, teils als Spiel konzipierte Produktion lässt sich vielleicht am besten als ethisch aufgeladene Betrachtung von Geheimdienstsystemen, Sicherheit und Technologie begreifen, die unseren Alltag und unser Wissen von der Welt bestimmen. Rimini Protokoll beschreibt die Performance als ein „auf Algorithmen basierendes, interaktives Theatererlebnis“ und knüpft damit an Vorgehensweisen aus früheren Arbeiten an, vor allem aus Call Cutta in a Box (2008) und Situation Rooms (2013). Auch bei diesen Produktionen wurden Personen aus dem Publikum ins Geschehen involviert und erhielten Anweisungen zum Umgang mit einem bestimmten Ort, aufgezeichneten Stimmen und anderen Zuschauern.
In Top Secret International werden die Teilnehmer*innen zu Beginn der Performance mit Kopfhörern und einem technisch erweiterten Notizbuch ausgestattet, das auf ihrem Rundgang durch das Brooklyn Museum ortsspezifische Sprachaufnahmen auslöst. Zwei Hauptstimmen – eine menschliche, männliche Stimme und eine eher weiblich klingende Roboterstimme – helfen bei der Navigation, während sie die jeweiligen Besonderheiten und Geschichten der Museumsobjekte entlang des Weges erläutern.
Die Ausstellungsinhalte des Museums dienen zur Rechtfertigung des eigentlichen Anliegens der Performance: der Auseinandersetzung mit der Arbeit internationaler Geheimdienste. Im Rahmen der Anweisungen zu den verschiedenen Artefakten erhalten die Nutzer*innen über Audio genauere Informationen zur Geschichte der Geheimdienste. Aus der Prspektive von Expert*innen, die sich in den Bereichen Überwachung, Analyse und Aufklärung oder, wie es in einem Bericht heißt, mit „der Wurzel des Krieges“ auskennen, werden ihnen Details zum Thema vermittelt.
So wird Alexander der Große als „Überwachungsinnovator“ beschrieben, ein ägyptischer Sarkophag wird zum Mechanismus, um kodierte Informationen mit ins Grab zu nehmen, und eine erotische Figurengruppe aus den Jahren 305 bis 30 v. Chr. führt zu Diskussionen über den Einsatz sexueller Erpressung, um ein potenzielles geheimdienstliches Ziel zu diskreditieren. Selten sind die Verbindungen subtil. Eine Aufnahme von Edward Snowden wird mitten im Atrium des Museums auf der zweiten Etage mit freiem Blick auf zwei an den oberen Balustraden angebrachte Überwachungskameras abgespielt. Und vor dem großformatigen Gemälde The Edge of Doom (1836‒1838) von Samuel Colman erörtern Teilnehmer*innen die ethische Frage: „Gelten Werte stets auch für jene, die sie verteidigen?“
Unterbrochen werden diese Berichte von Geheimdienstexpert*innen („Alltagsexpert*innen“, die in allen Produktionen von Rimini Protokoll vorkommen) durch scheinbar spontane Handlungsanweisungen, Aufforderungen zum Nachdenken und Wahlmöglichkeiten, durch die alle Teilnehmer*innen eigene ethische Schlussfolgerungen ziehen sollen. Ist es stets richtig, Regierungen zu erlauben, Informationen zurückzuhalten, auch wenn diese zur Aufklärung eines Verbrechens beitragen könnten? Würden Sie sich eine private E-Mail ansehen? Würden Sie Informationen über eine bevorstehende Katastrophe weitergeben? Würden Sie diese Informationen mit allen teilen oder nur mit denjenigen, die Ihnen nahe stehen? Die Beantwortung verschiedener Fragen treibt die Teilnehmer*innen in die eine oder andere Richtung, da sie alle als Performer*innen ihr jeweiliges Potenzial als Geheimagent*in testen. Könnten Sie als Spion oder Spionin erfolgreich sein? Würden Sie das überhaupt wollen?
Derartige Museumserkundungen erinnern uns daran, dass Spionage grundsätzlich etwas Theatrales hat, auch wenn sie notwendigerweise im Verborgenen stattfindet. Spion*in und Schauspieler*in sind zwei Seiten der gleichen Medaille; einmal dient die Geste dazu, Aufmerksamkeit zu vermeiden, einmal dazu, sie zu erzeugen. Top Secret International bietet Gelegenheit zu beidem, denn es präsentiert eine Sammlung von Informationen aus Performance, Algorithmus und digitalen Technologien, die zur Aufzeichnung, Analyse und Übertragung dieser Performances genutzt werden. So mahnt uns eine Stimme: „Alles auf Ihrem Computerbildschirm ist inszeniert.“
Derartige Aussagen scheinen deutlich auf den aktuellen Stand der Demokratie in den Vereinigten Staaten abgestimmt zu sein – ein Land, das kürzlich eine Reality-TV-Persönlichkeit zum Präsidenten gewählt hat. Und zwar in einer Wahl, die von Fake News, Social Media-Manipulation und, wie es heißt, dem Hacking zweier großer amerikanischer politischer Parteien durch eine ausländische Regierung und der strategischen Freigabe von potenziell schädlichen Informationen geprägt war. Aber was genau wurde gehackt, und hatte es Einfluss auf die Wahlen? Wie bereits häufiger angeführt wurde, gibt es keine Beweise für Manipulationen an Wahlautomaten oder eindeutige Anzeichen für Hindernisse bei der Stimmabgabe (obwohl der Wähler*innen-Zugang für einige nach wie vor ein Problem darstellt).
Im Grunde genommen scheinen es die Gedanken der Leute gewesen zu sein, die gehackt wurden, ihre Wahrnehmung der Kandidat*innen und Themen. Dass diese Wahrnehmung als Reaktion auf falsche Online-Informationen und die Manipulation von Social-Media-Algorithmen entstanden sein könnte, deutet auf einen kollektiven politischen Körper mit weniger Autonomie (und Sicherheit) hin, als dieser für sich beansprucht. Unter den vielen unangenehmen Vorstellungen von Top Secret International besteht die wohl abschreckendste in dem Gedanken, dass die anfälligste Stelle im Algorithmus der Demokratie wir selbst sind.