Kürzlich traf ich syrische Geflüchtete beim Abendessen. Neben mir saß ein Arzt, der vor einem Jahr nach Deutschland gekommen ist. Wir kamen ins Gespräch über seine Situation. „Das Schlimme ist“, bemerkte er, „dass ich als ein Mensch zweiter Klasse behandelt werde.“ Er fühlt sich von den Behörden hin- und hergeschoben. Es werde zwar immer zum Dialog aufgerufen, aber ein wirklicher Austausch finde nicht statt, weil die Lösungen für alle Probleme, die zur Sprache gebracht werden könnten, doch immer nur in der Hand der deutschen Seite lägen. Gerade die Verwendung des Wortes Dialog erinnere ihn dabei in fataler Weise an die Situation in Syrien. Da habe Assad anfänglich der Opposition auch immer Dialoge angeboten, ohne dass sich etwas Grundsätzliches verändert hätte – bis dann die Situation völlig eskalierte.
Damit traf der syrische Arzt ein Kernproblem unserer politischen Kultur, das sich durch die Ankunft der Geflüchteten, Menschen mit ganz anderen Erfahrungen und Wissensbeständen, noch verstärkt. Der Begriff des Dialogs wurde durch seine inflationäre politische Verwendung in den letzten Jahren und Jahrzehnten so konterkariert, dass er bestenfalls nichts- sagend ist, häufig genug aber sogar zur impliziten Rückweisung alternativer Positionen missbraucht wird.
Besonders prägnant wird dies an der Verwendung des Ausdrucks „einen Dialog auf Augenhöhe führen“, der oft in sogenannten Nord-Süd-Verhandlungen gebraucht wird. Hier ist die Redewendung besonders perfide, denn wenn sie benutzt wird, liegt nicht nur de facto eine Macht-Asymmetrie vor, sie wird durch diese Formulierung erst hervorgebracht. Derjenige, der dies behauptet, sagt aus, dass er den anderen auf der Höhe seiner Augen sieht, sprich, er selbst gibt die gewünschte Höhe, die Messlatte vor und ist somit die Bewertungsinstanz für den anderen. Vorgeblich wird die Formel explizit benutzt, um Gleichheit zwischen den Sprechenden herzustellen. Implizit ist es ein Machtgestus. Der Dialogbegriff wird verwendet, um vorgespielte Gleichheit zu suggerieren. In dieser Form ist er Bestandteil einer politischen Art von Konsenskultur, die es nicht mehr als ihre Aufgabe ansieht, den Konsens herzustellen, sondern ihn einfach behauptet.
Damit wird die ursprüngliche, klassische Bedeutung des Dialogs pervertiert: Dialoge wurden immer dann wichtig und relevant, wenn Dissens artikuliert werden sollte, wenn unterschiedliche Perspektiven, Meinungen zur selben Sache geäußert wurden. Der Dialog diente nicht dazu, Gleichheit zu behaupten, sondern Differenz zum Ausdruck zu bringen. Darin bestand sein politischer Wert.
Was passiert in der heutigen Konsensdemokratie? Die Diskussion darüber, was zu tun ist, wird an Expertengremien delegiert, also bewusst aus der politischen Arena verbannt. Diese Expertengremien, bestehend aus Wissenschaftlerinnen, Wirtschaftsvertretern, Bürokratinnen und Rechtsexperten oft privater Kanzleien, präsentieren dann die Faktenlage. Und die Politiker*innen legitimieren ihr Tun als Vollzug dieser vorgegebenen Sachlogiken. Sie treffen dann nur noch Sachentscheidungen und folgen scheinbar alternativlosen Sachzwängen. Politische Überlegungen kommen dann gar nicht mehr vor.
Dieser Auffassung unterliegt ein populäres Verständnis von Wissenschaft, das so tut, als beschrieben die Naturwissenschaften die Welt, so wie sie ist. Dass die Naturwissenschaften selbst sich seit Langem nicht mehr so verstehen, wird ausgeblendet. Jede*r ernstzunehmende Naturwissenschaftler*in weiß, dass es sich bei Fakten, wie das lateinische Wort factum schon besagt, um etwas von den Wissenschaftler*innen selbst Hergestelltes handelt, nie um eine endgültige Wahrheit.
In einer Politik, die sich in diesem Sinne auf das Faktenwissen von Wissenschaftler*innen und Expert*innen beruft, hat die Artikulation von Dissens keinen Platz mehr. In der Konsenskultur gegenwärtiger Politik gibt es nur ein Innen und Außen. Entweder man gehört dazu und akzeptiert die Spielregeln des hiesigen Weltbildes oder man ist ausgeschlossen.
Das Volk, der Demos, stört dabei nur. Deshalb werden grundlegende Entscheidungen in der Regel hinter verschlossenen Türen vorbereitet und nur im letzten Moment vor Realisierungsbeginn präsentiert. „Stuttgart 21“ ist dafür ein Beispiel. Die Vorstellungen der Bürger*innen von ihrer Stadt, von der Art wie sie leben wollen, wurden möglichst lange vom Planungsprozess ausgeschlossen. Als dann die öffentliche Diskussion nicht mehr zu verhindern war, ging der Staat so weit, mit Polizeigewalt rechtswidrig den sich artikulierenden Protest zu bekämpfen.
Im Falle der TTIP- und der TiSA-Verhandlungen wird das noch deutlicher. Nicht die Gefahr von Chlorhähnchen auf unseren Tellern ist dabei das eigentliche Problem, sondern die Aufgabe des politischen Raumes. Indem sich die demokratisch gewählten Vertreter*innen in Europa freiwillig den US-amerikanischen Richtlinien anpassen, verzichten sie auf Einflussnahme in wichtigen Bereichen des globalen Handels und überlassen diese globalen Konzernen. Durch die Verlagerung in den politikfreien Raum werden die Entscheidungen der gesellschaftlichen Einflussnahme völlig entzogen.
Wenn aber eine Gesellschaft sich der Möglichkeit beraubt, differente und dissidente Auffassungen in Verhandlungsprozessen auszutragen oder als Teil eines lebendigen Gesellschaftsprozesses zu verstehen, suchen sich die Ausgeschlossenen andere Ausdrucksformen.
Diese wurden in westlichen Demokratien lange Zeit durch die glänzende Warenwelt der Konsumgesellschaft eingehegt und kanalisiert. Differenz konnte in Form von Kleidung, Essgewohnheiten, Extremsportarten zum Ausdruck gebracht werden. Diese Technik funktioniert aber nicht bei Gesellschaftsgruppen, die von aktiver Teilhabe an den Errungenschaften und dem Wohlstand westlicher Gesellschaften ausgeschlossen werden oder daran nur unzureichend partizipieren können.
Diese Menschen suchen häufig Rückhalt bei Gemeinschaften, oft religiösen oder kulturellen, denen sie sich zugehörig fühlen. Und diese Gemeinschaften grenzen sich dann immer stärker vom Rest der Gesellschaft ab. Sie schaffen sich ihre eigenen Symbole und Weltbilder, aus denen heraus sie ihre Differenz artikulieren. Hat eine solche Dynamik begonnen, verstärkt die Gesellschaft aus ihrem Selbstverständnis die Ausgrenzung. Wie diese Mechanismen funktionieren, lässt sich an der Flüchtlingsdebatte ablesen: Entweder wird darauf abgezielt, die Geflüchtete als anderen Kulturen zugehörig möglichst schnell zurückzuschicken, oder aber sie umgekehrt möglichst schnell in die eigene Gesellschaft zu integrieren. Im ersten Fall wird die Differenz essentialisiert. Die Neuankommenden sind grundlegend verschieden von uns. Im zweiten Fall geht es darum, sie durch gezielte Maßnahmen so schnell wie möglich zu Bürger*innen der Konsensgesellschaft zu machen.
Erforderlich dagegen wäre eine Kultur des Dialogs, in der unsere Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit den Geflüchteten, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen mitbringen, weiterentwickelt wird im Hinblick auf eine offene Gesellschaft, die von einem Geist des Weltbürgertums getragen ist.
Diese fehlende Kultur des Dialogs wird zurzeit durch die große Zahl der Menschen, die täglich kommen, besonders spürbar und rückt gleichzeitig in immer weitere Ferne. Die Brisanz der Lage stellt die bestehenden Strukturen vor so große Herausforderungen, dass ein Aktionismus, der nur von Tag zu Tag denkt, und der schnelle pragmatische Lösungen sucht, die einzige Chance zu sein scheint, um Herr der Lage zu werden.
Nimmt man aber die Erfahrung des syrischen Arztes ernst, so darf die Verwaltung der Flüchtlinge nicht die einzige Antwort auf die politische Frage sein, welche Rolle sie in einer gemeinsamen Gesellschaft spielen sollen.
Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es anderer Zeit-Räume als die bürokratisch gemanagten Aufenthaltsräume. Es braucht Orte, in denen über längere Zeit wirkliche Dialoge stattfinden, in denen die Differenz fruchtbar gemacht wird für eine neue Gesellschaft, die ohne Frage eine Einwanderungsgesellschaft sein wird. Nur wenn diese Anstrengung gelingt, werden die Geflüchteten auch zu Akteur*innen unserer Gesellschaft, die dadurch an Reichtum und Komplexität gewinnt. Gelingt dies nicht, bleiben die geflüchteten Menschen Objekte bürokratischer Verschiebebahnhöfe, und das sogenannte Flüchtlingsproblem wird zum Dauerproblem unserer Gesellschaft.
Mit der Ankunft der Geflüchteten stellt sich täglich neu die Frage: Wollen wir unsere Gesellschaft als eine demokratische, von ihren jetzigen und zukünftigen Bürger*innen bestimmte zurückgewinnen?