Wie können wir in einer Welt voller kultureller Unterschiede allgemein verbindliche Verhaltensregeln aufstellen? Schon die frühesten Werke der antiken Geschichtsschreibung setzen sich mit dieser Frage auseinander. Herodot berichtet beispielsweise von den unterschiedlichen Bräuchen der Griechen und der Völker Asiens. Und auch in der heutigen Welt des Völkerrechts ist kulturelle Differenz noch ein wichtiges Thema. Wie der Name sagt, will es ein Recht für alle Völker sein. Doch welche Regeln und Grundsätze könnten für Gesellschaften unterschiedlicher Kulturen, Regierungsformen und Wertevorstellungen gelten?
Im 17. und 18. Jahrhundert entstand das Völkerrecht unter der Annahme, dass es auf dem Naturrecht gründe und deshalb auf die gesamte Menschheit anwendbar sei. Doch bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Völkerkundler und Soziologen ausgefeilte Möglichkeiten gefunden, zwischen „zivilisierten“ und „unzivilisierten“ Staaten zu unterscheiden. Sie untersuchten die politischen Systeme, gesellschaftlichen Strukturen, Wirtschaft, Recht, Brauchtum und sogar Kunst und Literatur in und außerhalb Europas. Damit einher ging ein tiefgreifender Wandel im Völkerrecht. Dieses Recht war plötzlich nicht länger ein Recht „aller Völker“, sondern ausdrücklich ein Produkt europäischer Kultur und Geschichte. Europäische Normen wurden als allgemeine angelegt, und alle Gesellschaften hatten sich daran zu messen.
Völkerrechtler dieser Zeit – sämtlich Europäer – erklärten, ihr Recht sei nur auf Beziehungen zwischen „zivilisierten“ westlichen Staaten mit ähnlicher Rechtskultur anwendbar – selbst wenn die Länder sich in anderen Bereichen stark unterschieden. „Unzivilisierte“ Völker in Afrika und in den meisten asiatischen Ländern wurden als irrational herabgestuft. Es fehle ihnen an Vernunft und Sitte, um westlichen Normen auf den Gebieten des Handels, des Schutzes von Eigentum oder des Kriegsrechts zu entsprechen. Sie wurden daher aus dem Geltungsbereich des Völkerrechts ausgeschlossen und damit auch ihrer Souveränität beraubt. Ohne Souveränität konnten sie nicht an der Gestaltung des „allgemeinen“ Rechts mitwirken, unterstanden diesem aber als Objekte der Kontrolle. Beispielsweise hatten sie an der Formulierung der als bindend gedachten Regeln des „Freihandels“ keinen Anteil.
Zudem wurde jeder Widerstand nichtwestlicher Staaten gegen diese Regeln als Bruch elementarer Rechtsnormen und Kriegsgrund gewertet. So behaupteten die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts, rechtmäßig Krieg gegen China zu führen, während die Chinesen versuchten, den zerstörerischen Opiumhandel in ihrem Land zu unterbinden. Ein noch extremeres Beispiel für den Ausschluss nichteuropäischer Völker als Rechtssubjekte war die Berliner Konferenz von 1884-85. Ohne die Teilnahme einer einzigen Afrikaner*in schuf sie den Rechtsrahmen für die wirtschaftliche Ausbeutung Afrikas und verhalf, um nur ein Beispiel zu nennen, Leopold II. von Belgien zur Herrschaft über das Kongobecken.
„Die europäischen Staaten weigerten sich, Gesetze ,unzivilisierter Staaten‘ anzuerkennen und rechtfertigten die Gewalt der kolonialen Eroberung im Namen eines ,Kulturauftrags‘.“
Einen so genannten „Zivilisationsstandard“ festzulegen war nicht einfach. Europäische Staaten konnten zumindest nicht leugnen, dass Gesellschaften wie die chinesische oder japanische Hochkulturen waren. Also behaupteten sie, dass die betreffende Kultur anders als die europäische und daher nur halb zivilisiert sei. Viele afrikanische Gesellschaften wurden dagegen als völlig wild eingestuft und damit zu Eroberungszielen erklärt.
Die europäischen Staaten nutzten vor allem zwei Verfahren zur Aufrechterhaltung dieser Unterschiede und widersprüchlichen Abstufungen. Erstens weigerten sie sich, Gesetze „unzivilisierter Staaten“ anzuerkennen. Sie erfanden juristische Strategien und Institutionen, die dafür sorgten, dass europäische Bürger und Kaufleute auch dann nur europäischen Gesetzen unterstanden, wenn sie in außereuropäischen Ländern tätig waren. Zweitens brachte das europäische Völkerrecht unablässig neue Doktrinen und Institutionen zur „Zivilisierung“ der „Wilden“ hervor. Die Gewalt der kolonialen Eroberung wurde im Namen eines „Kulturauftrags“ gerechtfertigt.
Die Europäer behaupteten, dass außereuropäische Staaten Souveränität erlangen konnten, indem sie sich an den „Zivilisationsstandard“ hielten. Als Folge nahmen Länder wie Japan umfassende Änderungen ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, ihrer Armeen und politischen Systeme vor, um dem europäischen Modell zu entsprechen. Japan fand auf diese Weise allmählich Aufnahme in die europäische „Völkerfamilie“. Dass es in der Seeschlacht von Tsushima Russland vernichtend geschlagen hatte, war als erster Sieg eines asiatischen Staates über eine europäische Macht von entscheidender Bedeutung. Ein japanischer Diplomat soll daraufhin gesagt haben: „Wir erweisen uns als mindestens ebenbürtig in der wissenschaftlichen Menschenschlachterei, und mit einem Mal werden wir als zivilisierte Menschen zu Ihren Verhandlungstischen vorgelassen.“
„Wenn mächtige internationale Institutionen, gute Regierungsführung‘ vorantrieben, förderten sie damit eine Globalisierung, die Ungleichheiten verschärft hat und heute zunehmend in die Kritik geraten ist.“
Mit der Entkolonialisierung und Verurteilung des Imperialismus verschwand der „Zivilisationsstandard“ weitgehend aus dem Wortschatz des Völkerrechts. Als analytischer Rahmen wurde er jedoch reproduziert: An die Stelle des Begriffspaars „zivilisiert“/“unzivilisiert“ traten die Gegensätze „entwickelt“/„unterentwickelt“, „liberal“/„illiberal“, „ziviler -“/„Schurkenstaat“. Und in allen Fällen entstanden Völkerrechtsdoktrinen, um die Lage vor Ort zu bessern, um aus unterentwickelten Staaten entwickelte zu machen, aus gescheiterten demokratische, oder um in „korrupten“ Gesellschaften für „gute Regierungsführung“ zu sorgen. Häufig waren diese „humanitären“ Unternehmungen von umfangreichen Gewalthandlungen begleitet. Und wenn mächtige internationale Institutionen „gute Regierungsführung“ vorantrieben, förderten sie damit eine Globalisierung, die Ungleichheiten verschärft hat und heute zunehmend in die Kritik geraten ist.
Die Grundregeln des Völkerrechts sind heute tatsächlich allgemeiner als zuvor, da sie mit Zustimmung aller Staaten, auch der afrikanischen und asiatischen, entstanden sind. Dennoch gibt es Forderungen, die Regeln zugunsten der neuen, als Terrorist*innen und Extremist*innen etikettierten „Barbar*innen“ zu ändern. Bemerkenswert am überkommenen „Zivilisationsstandard“ und am „Kulturauftrag“ ist, dass beide in wichtigen politischen Auseinandersetzungen und internationalen Initiativen nach wie vor eine große Rolle spielen. Doch könnten wir wirklich ohne sie auskommen? Es ist ja ohne Zweifel dringlich, Länder zu verurteilen, die die Menschenrechte grob verletzen oder die Weltordnung durch Krieg und Aggression bedrohen. Die Geschichte zeigt allerdings, dass zivilisatorische Normen zur Analyse komplexer globaler Probleme zu simpel sind. Oft bleibt umstritten, was als „unzivilisiert“ gilt und was nicht. Und schließlich sind die vermeintlich rechtlichen Mittel zur Durchsetzung „zivilisierter“ Verhältnisse oft selbst gewalttätig und destruktiv.