Aus Enttäuschung über die mangelhafte Aufführung seiner Stücke griff er das damals schon aus der Mode gekommene Instrument auf. Ein Instrument, das seiner Arbeit mit komplexen und hochpräzisen Verschränkungen unterschiedlicher Tempomuster und -verläufe am meisten entgegenkam. Menschliche Interpret*innen wurden seinen Werken selten gerecht, und selbst die fortgeschrittene Computertechnik des späten 20. Jahrhunderts gab diese bestenfalls in einem rein mechanischen Verfahren wieder. Erst wenige Jahre vor seinem Tod wurden Nancarrows Werke international bekannt und in Einspielungen auf seinen eigenen Pianolas zugänglich gemacht. Beim Festival Free! Music sind einige seiner Stücke auf einem Selbstspielklavier zu hören, das dem Instrument des Komponisten sehr ähnelt.

Wir leben im Schatten von musikalischen Giganten, die mit Bleistift und Papier technische Wunder vollführten, an die unsere Computer kaum herankommen.

Kyle Gann, “Outside the Feedback Loop: A Nancarrow Keynote Address”

Wer die Musik Conlon Nancarrows zum ersten Mal hört (die Conlon Nancarrow Webseite von Robert Willey, außerordentlicher Professor für Musikmedien, liefert eine Reihe aufschlussreicher Informationen), hat dabei aller Wahrscheinlichkeit nach bereits einige Informationen im Gepäck, die wie gemacht sind für die Bildung einer modernen Legende. Erstens tauschte Nancarrow menschliche Performer*innen, die seine Musik nicht richtig spielen konnten, bereits früh mit dem Pianola ein – einem selbstspielenden Klavier, das längst aus der Mode gekommen war, als er es für sich entdeckte. Zweitens hatte er bereits über Jahre isoliert im Verborgenen gearbeitet, als die Welt im Jahr 1980 mitbekam, dass ein bescheidener aber unbeirrbarer Komponist jahrzehntelang in einem abgelegenen Studio in einem Vorort von Mexiko-Stadt an einem der innovativsten Œuvres des 20. Jahrhunderts arbeitete.

Dieser geografische Umstand war Nancarrows Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg geschuldet, die ihn in den Augen der US-amerikanischen Regierung zum Kommunisten machte und letztlich dazu führte, dass sein Pass nicht erneuert wurde. Die Dinge nahmen aber einen geradezu märchenhaften Ausgang, Nancarrow wurde in späten Jahren Berühmtheit und Verehrung zuteil. Der Kreis hatte sich geschlossen, denn nicht nur wurde seine Musik – zumindest die spielbaren Stücke – nun auch von Musiker*innen richtig gespielt, sondern sie beauftragten auch neue Werke von ihm.

Die Entscheidung, auf Live-Performer*innen zu verzichten und stattdessen auf selten konsequente Art die Möglichkeiten eines einzigen Instruments auszuloten, war zunächst sicherlich den Schwierigkeiten geschuldet, welchen Nancarrow bei dem Versuch, seine Musik spielen zu lassen, begegnete; andererseits war es eine kohärente und wohlüberlegte Entscheidung aufgrund seiner kompositorischen Interessen. Denn das Pianola wurde zwar eher mit Salonmusik als mit den Bestrebungen der Avantgarde assoziiert, es eignet sich aber ausgezeichnet für die Erkundung verschiedener aber gleichzeitiger Tempi. Zur Erklärung: Eine Person läuft in einer vorgegebenen Zeit von Punkt A zu Punkt B und benötigt dafür sieben Schritte. Eine andere, kleinere Person benötigt, um die gleiche Distanz in demselben Intervall zurückzulegen, neun Schritte.

Gehen nun beide gemeinsam los und erzeugen bei jedem Schritt mit ihrer Stimme einen Ton, dann hören wir zwei gleichzeitige aber unterschiedliche Geschwindigkeiten. Die zweite Person klingt im Vergleich zur ersten schneller. Ein solches zeitliches Verhältnis von 7/9 kann ein einzelner Mensch, zum Beispiel ein*e gut ausgebildete*r Pianist*in, mit der rechten und der linken Hand spielen. Erfordert die Komposition aber ein Verhältnis mit sehr kleinen Geschwindigkeitsunterschieden, zum Beispiel 60/61 (wie es bei Nancarrow’s Studie #48 der Fall ist), wird es für Live-Performer*innen kompliziert.

Noch komplizierter wird es, wenn es sich um das Verhältnis rationaler und irrationaler Zahlen handelt, zum Beispiel 2 und seine Quadratwurzel (#33), oder wenn eine Stimme bei 3,4 Noten pro Sekunde beginnt und allmählich auf atemberaubende 110 Noten pro Sekunde beschleunigt, während die andere Stimme in die Gegenrichtung geht, bei 36 Noten pro Sekunde beginnt und auf 2,3 verlangsamt (#21). All das bewältigt ein Pianola, vorausgesetzt, man bringt genug Geduld für die erforderlichen Berechnungen auf, überträgt sie grafisch auf eine Klavierrolle und stanzt die notwendigen Löcher – wie es Nancarrow in mühevoller Kleinarbeit getan hat. Der gesamte Prozess kann dabei bis zu acht Monate Arbeit für ein Musikstück von vier oder fünf Minuten Länge bedeuten.

Könnte das ein Computer leisten? Nicht im Jahre 1948, als Nancarrow begann, seine Studien zu komponieren. Und wahrscheinlich nicht einmal heute, wenigstens nicht so elegant. Kyle Gann, selbst Komponist und Autor eines Grundlagenwerks über Nancarrow – seine Webseite zu Nancarrow enthält weiteres Material über den Komponisten – versuchte sich in ähnlichen musikalischen Prozessen, mit modernen Computerwerkzeugen. “Ich hatte tonnenweise mehr Technologie zur Verfügung als Nancarrow und schaffte trotzdem nicht, die Aufgabe so sauber auszuführen wie er.”

Was elektronische Musik und Computermusik betrifft, fällt auf, dass Nancarrow, obwohl er grundsätzlich an der Musikproduktion mit elektronischen Mitteln interessiert war, kein besonderes Interesse an den tatsächlichen Resultaten der elektronischen Komponist*innen hatte. In einem Interview von 1977  [Audiomitschnitt] mit einem anderen Anhänger seiner Arbeit, dem Komponisten und Radioproduzenten Charles Amirkhanian, sagte er: “Mit diesen [Pianos] habe ich zeitlich viel mehr Kontrolle als diese elektronischen Komponisten es haben.” Elektronische Musik wie man sie heute kennt, entwickelte sich weitaus stärker anhand von klanglichen Gesichtspunkten oder im Aufspüren neuer Sounds als in Hinblick auf zeitliche Aspekte, wie zum Beispiel das Nebeneinanderstellen verschiedener Tempi oder die oben beschriebenen Beschleunigungs- und Verzögerungsabenteuer.

Nancarrows kompositorische Bestrebungen mögen unglaublich abstrakt und komplex klingen. Auf der einen Seite sind sie das auch, sie haben in ihrer Analyse faszinierende und weitreichende Schlussfolgerungen mit sich gebracht, wie es Gann in seinem Buch gezeigt hat. Auf der anderen Seite ist das Erleben von Nancarrows Musik schlichtweg eine atemberaubende Erfahrung mit einer unmittelbar reizvollen Wirkung auf jedes aufmerksame Publikum, ob nun mit oder ohne Wissen um die Grundlagen. Die meisten Hörer*innen konnten seine Musik Dank der Aufnahmen der Studien hören, insbesondere eines vollständigen Sets, welches vom deutschen Label Wergo unter Aufsicht des Komponisten auf seinen eigenen Pianolas aufgenommen wurde.

Nancarrow begrüßte diese Art der Verbreitung seiner Arbeit. Bedenkt man den aufwändigen Transport der Pianolas, war es wahrscheinlich auch eine praktische Entscheidung: sie seien “nicht besonders transportabel,” sagte er. Seine Musik von einem Pianola gespielt zu hören, wie es während des Free! Music Festivals am HKW in Berlin der Fall sein wird (mit einem Pianola das Nancarrows Original sehr ähnelt und das von dem Musiker und Komponisten Dominic Murcott adaptiert wurde), ist ein seltener Genuss. In der Einleitung zu seinem Interview von 1977 sagt Amirkhanian: “Keine Aufnahme dieser Kompositionen kann auch nur annähernd den überwältigenden Eindruck roher Kraft und Aufregung wiedergeben, der sich auftat, wenn man in Nancarrows schallisoliertem Studio in Mexiko-Stadt saß und mit Haut und Haar  seinen Notenrollen direkt vor Ort lauschte.”