Als Marcel Duchamp 1965 darauf hinweist, dass er keine „Schule des Readymade“ begründen will, ist ihm bewusst, dass es diese längst gibt. Von den 1960er Jahren bis heute lässt sich ein umfangreiches Kompendium readymadeaffiner Werke und Künstler*innenpositionen zusammenstellen. Als ironische Reverenz an die zahlreichen Varianten und Derivate hat John Armleder die Readymades of the 20th Century 1997 zu einem „Readymade-Gesamtkunstwerk“ versammelt.

Die Entfaltung des Readymade-Prinzips in der aktuellen Kunst setzt den bei Duchamp bereits angelegten Pluralismus fort und lässt sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Dennoch können zwei Stränge unterschieden werden: einerseits die Weiterentwickelung von Praktiken des „schon Fertigen“ ohne expliziten Bezug auf Duchamp, andererseits kunsthistorische Referenzen oder Revisionen seiner Werke.

Die Readymades nach Readymades von Sherrie Levine und Elaine Sturtevant beispielsweise sind keine ausgewählten Objekte, sondern werden – ähnlich wie Duchamps Multiples – nach den Vorgaben der Künstlerinnen in einer Kleinserie mit limitierter Auflage produziert und auf dem Kunstmarkt angeboten. Interessanterweise haben beide Künstlerinnen aus je eigenem Anlass entschieden, diese Multiples in ihrer Gesamtauflage als temporäres Ensemble zu präsentieren. Levine zeigt Fountain (After Duchamp) 1991 bei der Premiere in der Mary Boone Gallery, New York, mit drei simultan ausgestellten Multiples der Edition. Bei der anschließenden Museumsausstellung wird sogar die komplette Serie der sechs Exemplare von Bronzeskulpturen nebeneinander präsentiert. Sturtevant zeigt 2012 Duchamp Fresh Widow von 1992 in einer Auflage von neun simultan präsentierten Exemplaren im Moderna Museet Stockholm. Beide Künstlerinnen zeigen in diesen Ausstellungen Multiples als Multiples (nach Readymades). Damit konterkarieren sie die Illusion des singulären Readymade, die sich für die klassische museale Präsentation der Werke Duchamps etabliert hat.

Durch den Verkauf einzelner Stücke wird der Ensemblecharakter nach diesen Ausstellungen jedoch wieder aufgelöst. Die Multiples von Levine und Sturtevant werden in der Folge ebenso wie Duchamps Readymades als singuläre Exponate gezeigt. Die bereits anhand von Duchamps Post-Readymades und Warhols Brillo Boxes behandelten Aspekte einer Verdeckung bzw. Offenlegung der Warenförmigkeit des „Produkts“ Kunst erhalten mit diesen Readymades nach Readymades von Levine und Sturtevant eine weitere Wendung: Die Umdeutungen des Readymade durch den Kunstmarkt werden ihrerseits zum Thema künstlerischer und ebenso marktstrategischer „Spekulationen“, die sich auf einer nächsten Stufe der Ambivalenz von Affirmation und Kritik bewegen.

Den bereits bei Duchamp angelegten Konflikt von Singularität und Pluralismus des Readymade untersuchen die Ensembles von Bethan Huws und Saâdane Afif. Unter dem suggestiven Titel Forest zeigt Bethan Huws 2008 eine Rauminstallation mit 88 Flaschentrocknern in unterschiedlichen Größen und Formen. Als Ensemble von Meta-Readymades evoziert Forest das verschollene Objekt von Duchamp und lässt es zugleich in einer Auffächerung von Unterschieden verschwinden. Die Patina und die teils deutlichen Gebrauchsspuren geben den Objekten eine Geschichte und Individualität. Sie werden zu Gegenständen der Kontemplation – Forest widerspricht in diesem Sinne bewusst Duchamps Suche nach der ästhetischen Indifferenz.

Die Fountain Archives von Saâdane Afif bauen von 2008 bis 2017 ein „imaginäres Museum“ der Reproduktionen auf, das schließlich 1001 Abbildungen dieses Readymade aus unterschiedlichen Publikationen enthalten soll. In dem nach strikt wissenschaftlichem Klassifikationssystem erschlossenen Archiv spiegelt sich die immense Verbreitung der zur Ikone der Moderne gewordenen Fountain Duchamps. Zugleich verdeutlichen die sichtbaren Differenzen der Objekte und ihrer Repräsentation in den Abbildungen die Absurdität der Suche nach einem „authentischen“ (Vor-)Bild oder Ursprung.

Die Fountain Archives zeigen das „Readymade Century“ als ein Jahrhundert der Reproduktion: Ein nie ausgestelltes, bald verschwundenes, nur einmal fotografiertes Pissoir löst eine stetig wachsende Lawine von Abbildungen aus. Dieser Prozess erfasst auf einer zweiten Ebene auch Saâdane Afifs eigenes künstlerisches Projekt: Die publizistischen Würdigungen der Fountain Archives führen zu einer steigenden Zahl von Abbildungen aus dem Projekt, die Fountain Archives werden somit selbst Bestandteil der Fountain Archives, in einer speziell dafür eingerichteten Sektion des Archivs. Diese „epistemischen“ Konstellationen von Bethan Huws und Saâdane Afif spielen mit der Differenz zwischen dem Imaginären und dem Realen. Sie machen die Idolisierung und Fiktionalisierung von Duchamps Readymades in der Rezeptionsgeschichte ebenso zum Thema wie die Unfassbarkeit eines „Originals“, das sich gerade durch Vervielfältigung immer weiter entzieht.

Die Mehrzahl heutiger Praktiken des „schon Fertigen“ bezieht sich nicht explizit auf Duchamps Readymades, sondern auf Aspekte der gegenwärtigen Kunst- und Warenwelt. Welchen Bedeutungsverschiebungen unterliegen die Konzepte eines „contemporary Readymade“ unter den postmodernen, postkolonialen und postmedialen Bedingungen einer „post-contemporary Art“? Aus einer interdisziplinären und interkulturellen Perspektive wird das „(post-)contemporary Readymade“ nicht zu einer weiteren Gattung im klassischen Kanon der Künste, sondern zu einer übergreifenden künstlerischen Methode oder Haltung, die ein neues, mit den etablierten Gattungen gleichberechtigtes Prinzip von Autorschaft und Originalität einführt. Die immense Auffächerung und Entfaltung des Prinzips Readymade scheint, 100 Jahre nach Duchamp, auf der historischen Offenheit des Begriffs, also auf der hier bereits ausführlich behandelten Undefinierbarkeit zu basieren, die zugleich seine ständige Aktualisierung und Erweiterung ermöglicht.

Zentrale Themen readymadeaffiner Praktiken des 21. Jahrhunderts sind die Zirkulation des Kapitals, die Globalisierung von Märkten, die Etablierung von transnationalen Markenidentitäten und die neuen (post-)industriellen Verfahren zur Herstellung von Waren. Die Kunst wird dabei Teil eines Feedback-Loops: Einerseits thematisiert oder kritisiert sie die globale Zirkulation von Waren und den „kognitiven Kapitalismus“, andererseits bedient sie als Kunstware selbst diese Kapitalisierung von Ideen und Marken durch ein „Rebranding des Readymade“.

Damit kommt ein weiteres Motiv für die Aktualität des Readymade in den Blick, das weit über Duchamps Werk hinausgeht: das anhaltende Spannungsverhältnis zwischen den beiden Bedeutungen von ready-made/Readymade, zwischen industrieller und künstlerischer Produktion – oder ganz generell zwischen dem ungebrochenen Bedürfnis nach Individualität und der seit Duchamps Zeit immer weiter fortschreitenden Formatierung dieses Bedürfnisses durch die Warenproduktion des Kapitalismus.

Diese kulturhistorische Dimension kann auch als Zeitzeugenschaft des Readymade bezeichnet werden: Jedes Readymade war oder ist seinem Wesen nach „contemporary“: Es gleicht einer Momentaufnahme aus der Alltagskultur des Zeitpunkts seiner Auswahl und steht im Kontrast zur Überzeitlichkeit von Kunstwerken der klassischen Genres. Die Bedeutung von Duchamps Readymades und ebenso der heutigen, davon unabhängigen Praktiken beschränkt sich nicht auf die Sphäre der Kunst, sondern „veräußerlicht eine Weise, die Welt zu sehen“ und „drückt das Innere einer kulturellen Epoche aus“, wie Danto bereits für die Brillo Boxes konstatiert. Und deshalb ist es nach 100 Jahren immer noch interessant, sich mit den Readymades von Marcel Duchamp zu befassen.

(Bearbeiteter Ausschnitt aus: Dieter Daniels, The Readymade Century, Spector Books: Leipzig 2017, im Druck)

Die drei Kapitel von The Readymade Century widmen sich den Readymades Marcel Duchamps aus unterschiedlichen Perspektiven: Der Readymade-Index untersucht die Genese und Konsistenz von Duchamps Konzept in den ersten 50 Jahren des „Readymade Century“ von 1914 bis 1964. Der zweite Teil Readymade-Exposition beschreibt die weit über Duchamps Lebenszeit hinausreichende Wirkungsgeschichte. Der Fortschreibung und Auffächerung der Idee des Readymade widmen sich der Epilog Readymade Contemporary, aus dem dieser Ausschnitt stammt.