Leonhard draws an arch from the First World War’s depersonalizing forms of violence and shows them as not only the fundament for the horrors of the 20th century, but as Europe’s cultural inheritance today. To quote Harry Graf Kessler in a note from the front: “They sat next to us in cover as if in an office, and gave the orders to shoot and numbers from a safe distance of two kilometers through a telephone, exactly the way a banker would phone in orders to buy and sell on the market… .  A single order could result in the deaths of hundreds, in between firing they would chat and have breakfast.”

Original text in German:

1. Maschinen und Körper

Bereits die ersten Gefechte des Krieges dokumentierten eindringlich, wie ein gut koordinierter Verteidiger auch einen numerisch überlegenen Gegner vor allem durch den Einsatz von Maschinengewehren schlagen konnte. Bei Rossignol in Südbelgien traf am 22. August 1914 das französische Regiment Nr. 1 der 3. Kolonialdivision unter General Raffenel auf deutlich unterlegene deutsche Truppen und wurde dennoch fast komplett aufgerieben, vor allem durch gegnerisches Maschinengewehr-Feuer und auch durch eigenen fehlgeleiteten Artilleriebeschuss. Von 3.200 Mann verlor das Regiment innerhalb kurzer Zeit ca. 3.000 Mann, davon 2.000 Tote sowie 1.000 Verwundete oder Gefangene.

Trotz dieser Opfer hielten alle Oberbefehlshaber im Kern an der überkommenen Offensivkonzeption fest. Sie verdrängten, wie verheerend die im Verbund eingesetzten Artilleriewaffen und Maschinengewehre auf dem Schlachtfeld wirkten. Gegen die Einschränkung der Infanteriebewegung und die von der Waffenwirkung her drohende Lähmung des Gefechtsfeldes setzten sie auf einen umso gesteigerten Angriffsdruck. Sie blieben überzeugt davon, dass es eine Frage von Willensstärke und Disziplin, Tapferkeit und Nervenstärke sei, möglichst viel Feuerkraft an die gegnerischen Stellungen heranzutragen und den Gegner dann im konventionellen Nahkampf niederzuringen. Obwohl man in den militärischen Reglements der Deckung der Infanteristen größere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, blieb die moralische Disposition des Soldaten die entscheidende Richtschnur, wie sich in der französischen Orientierung an der „offensive à outrance“ zeigte: „Die moralischen Kräfte sind die mächtigsten Träger des Erfolgs. Die Ehre und die Vaterlandsliebe flößen der Truppe die edelste Hingebung ein. Der Opfermut und der Wille zu siegen, sichern den Erfolg.“ Feldbefestigungen und ausgebaute Schützengräben lehnten die Stabsoffiziere ab, da sie befürchteten, sie könnten den Angriffswillen der Mannschaften lähmen und angeblicher Feigheit Vorschub leisten. In der russischen Armee blieben die Leitsätze des Generals Dragomirov leitend: „Die Kugel ist töricht, allein das Bajonett ist ein Mann […] Es gibt eine nationale Taktik, unter die sich die moderne Bewaffnung beugen muss, und keineswegs eine moderne Bewaffnung, an die sich die nationale Taktik anzupassen hat.“

Die Waffenwirkung hatte aber nicht allein eine quantitative Dimension. Töten und Getötetwerden wurden anonymisiert. Die Bedienung der schweren Geschütze war von den Wirkungsorten nun so weit entfernt, dass der Krieg durch diese Distanz und die notwendige Funkkommunikation eigenartig abstrahiert, ja bürokratisiert erschien, jedenfalls eine eigene rational-sachliche Dimension annahm. Harry Graf Kessler beschrieb seine Eindrücke vom Einsatz der neuen Kruppmörser in Belgien am 22. August 1914: „Der eine rasierte den Beobachtungsturm, ein andrer warf einen grossen Betonblock herauf, man sah die Zerstörung fortschreiten. Die Feuerleitung, ein Hauptmann u. ein Oberleutnant, sassen neben uns in Deckung wie in einem Bureau, gaben durch Telephon dem zwei Kilometer entfernten Geschütz Befehle und Zahlen an, genau wie ein Bankier Orders für Kaufen und Verkauf an die Börse telephoniert, eine ganz methodische Bureautätigkeit, eine methodische Geschäftstätigkeit, deren börsenartiger Eindruck dadurch erhöht wurde, dass der Hauptmann auf das Haar Walther Rathenau glich. Eine Order konnte hundert Leichen erbringen, zwischen den Schüssen wurde geplaudert und gefrühstückt, man empfand es nur, wenn man sich zwang daran zu denken, dass der kühle Rechner mit seinen Orders tötete.“

Die Macht des Zufalls, die darüber entschied, ob man den Krieg überlebte oder nicht, wurde zu einem Leitmotiv der soldatischen Fronterfahrung. Der österreichische Schriftsteller und Offizier an der Alpenfront Robert Musil erlebte im September 1915 den Einschlag eines italienischen Fliegerpfeils unmittelbar neben sich. Fliegerpfeile waren zehn bis 15 Zentimeter lange Stahlpfeile, die Kampfpiloten aus ihren Flugzeugen abwarfen. Für Musil nahm dieses Erlebnis den Stellenwert einer eigenen Initiation an, in dem sich das Nichtwissen um den Einschlag mit dem Wissen um die Präsenz und unmittelbare Nähe des Todes verband: „Das Schrapnellstück oder der Fliegerpfeil auf Tenna: Man hört es schon lange. Ein windhaft pfeifendes oder windhaft rauschendes Geräusch. Immer stärker werdend. Die Zeit erscheint einem sehr lange. Plötzlich fuhr es unmittelbar neben mir in die Erde. Als würde das Geräusch verschluckt. Von einer Luftwelle nichts erinnerlich. Muß aber so gewesen sein, denn instinktiv riß ich meinen Oberleib zur Seite und machte bei feststehenden Füßen eine ziemlich tiefe Verbeugung. Dabei von Erschrecken keine Spur, auch nicht von dem rein nervösen wie Herzklopfen, das sonst bei plötzlichem Choc auch ohne Angst eintritt. – Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe.“

Dieses Gefühl, dem Tod ausgesetzt zu sein, blieb aber nicht auf die unmittelbare Schlacht allein beschränkt. Jean Dartemont beschrieb eine veränderte Wahrnehmung von Himmel und Sonnenaufgang als Chiffren von Natur und Zeit, die in der Vorkriegsgesellschaft Zeichen des Friedens gewesen waren, jetzt aber zu bedrohlichen Fallen wurden, wenn die Aufmerksamkeit der Soldaten nachließ: „Das rosa Morgenlicht, die stille Dämmerung, der warme Mittag sind Fallen. Die Freude wird für uns ausgelegt wie ein Köder. Von körperlichem Behagen erfüllt, streckt ein Mann seinen Kopf aus dem Schützengraben und wird getötet. Einem mehrstündigen Beschuss fallen nur wenige Männer zum Opfer, und eine einzige, aus Langeweile abgeschossene Granate fällt mitten in einen Zug und vernichtet ihn. Ein Soldat ist nach alptraumhaften Tagen von Verdun zurückgekehrt, und beim Exerzieren explodiert ihm eine Handgranate in der Hand, sie reißt ihm den Arm ab und zerfetzt ihm die Brust.“

Soldaten begriffen sich weniger als Täter, sondern eher als Opfer von technologisch anspruchsvollen Waffen, von Geschossen und einem Gewaltsystem, das allenfalls in kurzen Momenten durch die gegnerischen Soldaten, durch konkrete Personen also, sichtbar wurde. Ansonsten handelte es sich um eine weitgehend entindividualisierte Erfahrung, die aber auf die Psyche der betroffenen Soldaten umso stärker einwirkte.

Daraus resultierte auch die Neigung vieler Frontsoldaten, den Gegner nicht im Licht jener nationalen Feindbilder zu sehen, die zu Kriegsbeginn dominiert hatten und in den Heimatgesellschaften präsent blieben. Vielmehr hob man die gemeinsame Erfahrung hervor, die aus prinzipiell gleichen Gefahren und Lebensbedingungen auf beiden Seiten der Front resultierte: Der Gegner blieb Gegner, aber er war auch immer wieder Kamerad. Gerade der Abstand zu den Kommandeuren der Etappe, die sich vertiefende Kluft zwischen relativer Gleichheit der soldatischen Lebenswelt und dem kritischen Blick auf die Oberbefehlshaber als Architekten des Krieges bildete für diese Deutung einen entscheidender Ansatzpunkt, wie auch Jean Dartemont resümierte: „Daher ist der Schrei, der manchmal aus den deutschen Schützengräben erschallt, ‚Kamerad Franzose‘, wahrscheinlich ernst gemeint. Der ‚Fritz‘ ist dem ‚Poilu‘ näher als seinem eigenen Feldmarschall. Und der ‚Poilu‘ ist dem ‚Fritz‘ aufgrund des gemeinsamen Elends näher als den Leuten in Compiègne. Unsere Uniformen sind unterschiedlich, doch wir sind alle Proletarier der Pflicht und der Ehre, Bergarbeiter, die in konkurrierenden Grubenunternehmen arbeiten, doch vor allem gleich entlohnte Bergarbeiter, die gleichermaßen von schlagenden Wettern bedroht werden.“

2. Hypotheken: Der Erste Weltkrieg und unsere Gegenwart

Das Ergebnis des Krieges für das 20. Jahrhundert, das war den Zeitgenossen unmittelbar bewusst, ging nicht allein in der Quantität der Kriegsopfer auf. Es war nicht messbar anhand der Millionen von toten Soldaten und Zivilisten. Hinter der schieren Quantität der Opfer verbarg sich eine grundsätzlich neue Qualität von Gewalterfahrungen. Obwohl die Opfer anders als im Zweiten Weltkrieg zumeist noch Soldaten waren, entstand eine neue Dimension der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, so in Belgien und Nordfrankreich, in Serbien, Armenien und vielen Gebieten Osteuropas. Die Ausblutung der vom Krieg betroffenen Räume, die zerstörten Städte, Fabriken, Straßen und Bahnlinien, all das gab eine Ahnung von den Möglichkeiten künftiger Kriege. Zu den Opfern zählten viele Tote bisher nichtselbstständiger Bevölkerungen im Verband der Empires – das verband bei allen Unterschieden die polnischen mit den indischen und den aus Afrika und Ostasien rekrutierten Soldaten. Und zur fortdauernden Wirkung des Krieges gehörten auch das Heer der zurückbleibenden Verwundeten und die damit verbundenen langfristigen staatlichen Versorgungsleistungen für Kriegsinvalide. Gerade sie gaben dem Krieg im Frieden ein Gesicht.

Der Erste Weltkrieg war viel mehr als die Vorgeschichte zu einer noch schlimmeren Katastrophe. Der Krieg hatte offenbart, was im Namen von Nation und Nationalstaat möglich war, und das Mögliche hatte sich in zahllosen Tabubrüchen und Enthemmungen offenbart. Darin bestand die Krise einer besonderen „europäischen Vergesellschaftung“, die sich seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund der konfessionellen Bürgerkriege entwickelt hatte. Sie hatte nach dem Dreißigjährigen Krieg auf der Möglichkeit gegründet, Kriege durch Regeln einzuhegen, sie als Konflikte zwischen prinzipiell souveränen Staaten nicht eskalieren zu lassen, Gewalt zu kanalisieren und sie damit berechenbar zu machen. Das war nach den Erfahrungen der in der Folge der Französischen Revolution und Napoleons entstandenen Kriege im Prinzip auch zwischen 1815 und 1914 noch einmal gelungen – und lange Zeit hatte sich die internationale Staatenordnung angesichts der Entstehung neuer Nationalstaaten wie Italien und Deutschland und der imperialen Ausgriffe europäischer Staaten als sehr flexibel erwiesen.

Diese Epoche letztlich begrenzter Kriege kam mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende: Die europäischen Kriegsgesellschaften verloren zwischen August 1914 und November 1918 ihre Fähigkeit, aus eigenen Kräften äußeren und inneren Frieden zu schließen und einer solchen Friedensordnung langfristig zu vertrauen. Das markierte einen entscheidenden Einschnitt für die Wahrnehmung Europas und der Glaubwürdigkeit der von seinen Staaten repräsentierten Ordnungsmodelle in der Welt.

Der Sieger des Weltkrieges war keine Nation, kein Staat, kein Empire, und sein Ergebnis war keine Welt ohne Krieg. Der eigentliche Sieger war der Krieg selbst, das Prinzip des Krieges, der totalisierbaren Gewalt als Möglichkeit. Das wog langfristig umso schwerer, weil es im fundamentalen Gegensatz zu jenem Leitmotiv stand, das sich während des Krieges entwickelt hatte und das für viele Soldaten ein entscheidender Grund gewesen war, den Krieg mit allen Mitteln fortzusetzen. Die Hoffnung, ein letzter grausamer Krieg müsse am Ende gegen das Prinzip des Krieges überhaupt geführt werden, das Vertrauen darauf, dass der Weltkrieg ein war that will end war sei, sollte bitter enttäuscht werden.

Der 11. November 1918 beendete den Krieg zwischen Staaten im Westen Europas, aber der Waffenstillstand unterbrach nicht das Kontinuum der Gewalt an vielen anderen Orten: in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, in der Zerfallszone der multiethnischen Großreiche Russlands, Habsburgs und des Osmanischen Reichs, wo der Staatenkrieg zum Staatszerfall führte, wo der Weltkrieg in Bürgerkriege und ethnische Konflikte überging, die Front in einen Gewaltraum, in dem jeder – Soldat oder Zivilist – der Feind sein konnte. Schon die unmittelbare Phase nach dem 11. November 1918 dokumentierte, dass kriegerische Gewalt auch weiterhin ein Mittel der Wahl blieb: um wie in Irland und Polen neue Nationalstaaten zu etablieren oder territorial zu arrondieren, um wie in Russland in einem blutigen Bürgerkrieg einer Ideologie zum Sieg zu verhelfen oder wie in der Türkei die Bedingungen eines Friedensvertrags gewaltsam zu revidieren. Was im Sommer 1914 im Kern als Staatenkrieg begonnen hatte, mündete seit 1917 in eine Vielzahl neuer Gewaltformen, die weit über das formale Ende des Krieges im Westen hinausreichten. Dazu gehörten, immer wieder überlappend, nationale Unabhängigkeits- und Staatsbildungskriege, ethnische Konflikte und Bürgerkriege.

Was sich durch den Krieg elementar veränderte, war der Blick auf die Möglichkeiten der Gewalt vor dem Hintergrund einer neuartigen Unübersichtlichkeit, eines Zeitalters der Frakturen, das zu neuen Kategorienbildungen zwang. Es war nach 1918 kein neuer stabiler Ordnungsrahmen – weder gesellschaftlich, noch politisch, noch international – erkennbar. Aber die neuen Modelle des Bolschewismus wie des Faschismus wandten sich unverkennbar gegen das liberale Erbe des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt in der ausgesprochenen Gewaltbereitschaft und dem entgrenzten Terror nach innen und außen. Das hatte mit vielfältigen Weltkriegserfahrungen zu tun, den Übergängen vom Staatenkrieg in die Revolution und den Bürgerkrieg genauso wie mit den enttäuschten Erwartungen in vielen Gesellschaften nach 1918. Um 1930 schien das Modell des liberalen Verfassungsstaates und der Parlamentarismus jedenfalls seine Zukunft hinter sich zu haben.

Hinter dieser tiefgreifenden Erschütterung wurde etwas anderes sichtbar. Stärker als in jedem Krieg zuvor und danach traten im Ersten Weltkrieg Erwartungen und Erfahrungen auseinander. Walter Benjamin schrieb 1933 im Rückblick: „Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914–1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen in der Weltgeschichte gemacht hat […] Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden, als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“

Was aber war die Konsequenz dieser radikalen Entwertung von Erwartungen durch eine Explosion von Gewalterfahrungen in kurzer Frist seit dem Sommer 1914? Bis in die frühe Neuzeit waren Erwartungshorizonte und Erfahrungsräume in einem zyklischen Zeitverständnis aufeinander bezogen geblieben. Zwischen 1770 und 1850 brach diese Zeitvorstellung auseinander, weil die Erwartungen der Menschen im Zeitalter der Französischen Revolution weit über ihre Erfahrungen hinausschossen.

Das, was im August 1914 begann und im November 1918 nicht endete, kehrte diese Tektonik radikal um: Nun entlarvte der Krieg die Fortschrittserwartungen, jenes Erbe des 19. Jahrhunderts, als harmlose Szenarien, die der Dynamik der Erfahrungen in diesem Krieg nicht mehr standhielten. Das Ergebnis war eine Glaubwürdigkeitskrise in nahezu allen Lebensbereichen: eine Krise der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der ideologischen Entwürfe zur Rechtfertigung von Staaten und Reichen, von Nationen, Ethnien und Klassen. Darin, in dieser elementaren Verunsicherung, in verkürzten Geltungsfristen und Halbwertzeiten großer Ordnungsideen, liegt ein Erbe des Krieges bis in die Gegenwart.

Henri Barbusse, der Autor des schonungslosen Kriegsbuches Le feu, betonte 1918: „Menschheit statt Nation. 1789 riefen die Revolutionäre: ‚Alle Franzosen sind gleich.‘ Wir sagen: ‚Alle Menschen!‘ Die Gleichheit erfordert gemeinsame Regeln für alle Menschen der Erde.“ Dieser Satz, diese Hoffnung, der Weltkrieg sei mit seinen entsetzlichen Opfern nicht umsonst gewesen, weil er eine neue Weltinnenordnung geschaffen habe, hat im Prinzip seinen normativen Anspruch bis heute nicht verloren. Aber niemand wird behaupten, die Menschheit sei bei aller Verdichtung zum wirklichen Handlungssubjekt geworden – auch die Desillusionierung der globalen Hoffnungen auf „a war to end all wars“ sollte eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts werden. Die Neudefinition der pluralen, staatsgenerierenden Außenpolitik in eine ‚Weltinnenpolitik‘ ist ein Indiz dafür, dass sich die Probleme verlagert haben, nicht aber gelöst worden sind. Wo früher Kriege geführt wurden, werden heute Bürgerkriege entfesselt. Ein Ende der Gewalt bedeutet das bis heute nicht, im Gegenteil.

Der enthemmten Gewaltgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Katastrophen- und Zerfallsphase folgte nach 1945 eine mindestens für Westeuropa friedliche Phase im Zeichen des stabilen Kalten Krieges und der Durchsetzung der demokratischen Massengesellschaft, zunächst in West-, dann nach 1989/91 auch in Osteuropa. Es schien, als habe man die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gebraucht, um die seit August 1914 geschlagenen Wunden allmählich zu heilen. Aber sichtbar bleiben sie bis heute.

Als vor einigen Jahren die letzten überlebenden Soldaten des Ersten Weltkriegs starben, als sich der Übergang von den kommunizierten Erinnerungen zu den kulturellen Gedächtnissen abzeichnete, da spiegelte sich in der großen Aufmerksamkeit für diese besondere Verzeitlichung auch eine tiefere Erfahrungsschicht wider. Dass dies in Großbritannien und Frankreich intensiv verfolgt wurde, nicht aber in Deutschland, hat selbst historische Gründe – und verweist auf die in Deutschland bis heute vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust überlagerte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Hier, in Deutschland, ist der Krieg nicht La Grande Guerre, The Great War, De Grote Orlog, sondern der Erste von zwei Weltkriegen, ist Vorvergangenheit zur katastrophischen Vergangenheit der Jahre 1933 bis 1945.

Aber im Tod des letzten poilu und des letzten Tommy wurden für einen kurzen Moment noch einmal jene Zeitschichten spürbar, bei denen das Frühere im Späteren aufscheint, und das heißt das notwendige Wissen um die im Kern grausame und zerstörerische Geschichte von Gewalt, von dem, was Menschen in einem modernen Krieg einander antun konnten. Das aber ist keine Vorvergangenheit, sondern ein verstehendes Wissen, wie wir in die Gegenwart gelangt sind.

Am Ende des Romans Der Zauberberg entlässt Thomas Mann seinen Helden Hans Castorp auf die Schlachtfelder des Flachlandes und fragt, ob aus diesem Krieg, diesem „Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen“ werde. Als Thomas Manns Kinder am 2. August 1914 ihre Aufführung der Büchse der Pandora abbrechen mussten, weil der Krieg ausgebrochen war, da öffnete sich für Europa und die Welt ein eigenes Schreckensgefäß: „und in dem gleichen Augenblick entflog diesem ein Schwarm von Übeln und verbreitete sich im Nu über die ganze Erde […] Und nun erfüllte das Elend in allen Gestalten Erde, Luft und Meer; allerlei Fieber belagerten die Erde, und der Tod, der vordem die Sterblichen nur langsam beschlichen hatte, beflügelte seinen Schritt.“

Es bedurfte vieler Irrwege, zahlloser Opfer und schmerzvoller Anläufe im 20. Jahrhundert, um die Extreme der Gewalt wieder einzufangen, die sich seit August 1914 entfaltet hatten, sie zu bändigen und mühsam in eine Friedensordnung zu verwandeln. Wo und wann immer diese Ordnung nach innen oder nach außen gefährdet ist, da sind wir bis heute Erben dieses Krieges.