Kader Attia war Sprecher bei der von ihm konzipierten Ausgabe des Wörterbuchs der Gegenwart Körper am Institut für Anatomie der Charité, Berlin.

Glissants Verständnis des Anderen unterscheidet sich sehr von dem anderer postkolonialer Denker*innen wie Homi K. Bhabha, Edward Said und Gayatri Spivak, die alle mehr oder weniger Frantz Fanons Definition dieses schwierigen Konzepts treu bleiben. Das Andere war für Fanon bekanntermaßen ein Anderer, dessen Streben nach Dekolonialisierung ihn in einem binären Gegensatz zum Kolonisierenden fixierte. Bhabha, Said und Spivak theoretisieren das Andere jeweils auf ihre Art als etwas, das westlichen Zusammenhängen und Diskursen entgegengesetzt und in diesen nur als erstarrte Repräsentation assimilierbar ist. Für Glissant wie für Attia ist das Andere jedoch jemand, beziehungsweise etwas, mit dem wir die All-Welt bewohnen und das Teil einer Gesamtheit ist, die allerdings durch Unterschiede laufend gespalten und vervielfacht wird. Innerhalb dieser fluktuierenden Gesamtheit betont Glissant: „Ich kann mich im Austausch mit dem Anderen verändern, ohne mich zu verlieren oder zu verfälschen.“ Ein solcher Austausch wäre vielleicht die richtige Maßnahme zur Dekolonisierung – nicht nur für die ehemals Kolonisierten, sondern auch für den Westen.

Dennoch ist dieser Vision nichts Utopisches zu eigen. Unser Verhältnis zum Anderen als Subjekt und Objekt ist möglicherweise immer noch zutiefst belastet und erschreckend gewalttätig, wie Attia in seinem Werk Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures nahelegt. Über das Thema des Traumas erschafft The Repair einander abstoßende Gemeinsamkeiten zwischen afrikanischen and europäischen Geschichten und Subjekten. Auf industriell hergestellten Metallregalen, inmitten von Ephemera und verschiedensten Artefakten, unter anderem von Soldaten im Ersten Weltkrieg produzierte „Schützengrabenkunst“, finden sich Masken und traditionelle figürliche Skulpturen, die von den jeweiligen einheimischen Ausdrucksformen in Dakar (Senegal) und Carrara (Italien) zeugen. Alle Skulpturen weisen Spuren von Schäden und Reparaturen auf, Deformationen, die ihr bedrückendes Echo in Projektionen von verstümmelten Veteranen des Ersten Weltkrieges finden. Wir erblicken alle möglichen Darstellungen des verkörperten Anderen: traumatisierte Körper, Ausstellungskörper, reparierte Körper, zum Fetisch gewordene Körper, ästhetisierte Körper, objektivierte Körper, weiße Körper, Schwarze Körper, Körper von Afrikaner*innen, Körper von Europäer*innen, aus Holz geschnitzte Körper, aus Stoff genähte Körper, maskierte Körper, tätowierte Körper, ausgehöhlte Körper, hervortretende Körper, als körpergewordene Stereotype in Kisten eingeschlossene Körper, werdende und zerfallende Körper. All diesen Wesen ist gemein, dass sie der Reparatur harren. Sie alle müssen etwas Fehlendes ausgleichen, das sie vielleicht als etwas wahrnehmen, was ihnen eigentlich zusteht. Sie alle streben nach einem Zustand wiederhergestellten Gleichgewichts, einer Kompensation für einen Mangel oder eine Amputation.

Wir kommen nicht umhin, dies als reparaturbedürftiges Panorama einer Schuld Europas gegenüber Afrika zu verstehen, als unbeglichene Rechnungen für den transatlantischen Menschenhandel, den Kolonialismus und die aktuelle Dezimierung indigener Bevölkerungsgruppen und ihres Lebensraums durch Rohstoffabbau und Krieg. Demzufolge verweist der Begriff der Reparatur auf mindestens zwei Bedeutungsebenen. So erkennen wir zunächst, dass ein beschädigter Körper ein Körper ist, dem ein Defekt zugefügt wurde, ein Loch als Zeichen eines Traumas, das wir behandeln müssen, indem wir es bedecken, zunähen oder mit anderen Narben verzieren, um es uns wieder anzueignen. Darüber hinaus meint Reparatur Reparation im Sinne von bezahlen, begleichen oder einer psychologischen Entschädigung für eine Verletzung, die uns nicht nur geschwächt, sondern auch etwas Wertvolles genommen hat ‒ Lebenskraft. In diesem Sinne fordern unter anderem Afro-Amerikaner*innen (die buchstäblich halb als Gegenstand, halb als Mensch galten, beziehungsweise genauer als Zwei-Fünftel-Gegenstand und Drei-Fünftel-Mensch) Reparationen für die an ihnen verübten Verbrechen. Einige der afrikanischen Masken in Attias Installation wurden als Vermittler*innen dieser Form von Reparation geschaffen: Sie wurden in Ritualen zur Darstellung von Ahnengottheiten verwendet, die angerufen wurden, um Schäden durch Epidemien und Naturkatastrophen auszugleichen.

Beim Gang durch die Ausstellung fällt sofort auf, dass die zerstörten Gesichter, seien es Schwarze oder weiße, Masken oder Menschen, insofern austauschbar sind, als sie alle Narben tragen und reparaturbedürftig sind. Jedes einzelne dient der Herstellung eines lieu-commun, den sie nicht nur miteinander, sondern auch mit den Betrachter*innen teilen können. Angesichts dieser furchtbaren Verletzungen schrecken wir vielleicht zurück. Doch wenn wir weiter hinsehen und uns diesen Gesichtern bis ins letzte schreckliche Detail stellen, erkennen wir vielleicht die Beziehungen zwischen den beschädigten Subjekten und den sichtbaren oder unsichtbaren Verletzungen unserer eigenen Identitäten ‒ denn alle Identitäten tragen Narben. Das Bewusstsein des Unterschieds geht einher mit einer inneren Identifikation.

Kaum ein anderes zeitgenössisches Kunstwerk macht das Blutbad inmitten der Moderne so deutlich greifbar. Das Nebeneinander der Gesichter der grausam entstellten Männer und der Masken, deren stilisierte Geometrie sich zuweilen auf unheimliche Art in ihnen widerzuspiegeln scheint, erinnert daran, dass die historischen Avantgarden von den Amputationen im Ersten Weltkrieg genauso geprägt wurden wie von der afrikanischen Kunst. Vielleicht sollten wir diese Narben als Spuren moderner Selbsttechnologien betrachten, des modernen Subjekts, das sich und andere gewaltsam stets neu erschafft. Die Opfer der brutalen Gewalt, die Attia als Aneignung bezeichnet, lassen sich immer und überall in der Moderne finden. In The Repair gibt Attia ihnen ihre Erfahrung, ihre Gesichter sowie die Kunst zurück, die sie erschaffen haben, indem er ihnen ein gewisses Maß an historischer Handlungsmacht verschafft und uns einen Eindruck von der immer noch unbeglichenen Schuld der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit.

Wie der Titel andeutet, führt Attias Installation Continuum of Repair: The Light of Jacob’s Ladder (2013) in der Londoner Whitechapel Gallery diese Auseinandersetzung fort. „Die größte Illusion des menschlichen Verstands ist vermutlich die, auf die der Mensch sein Menschsein gründet: die Idee, dass er etwas erfindet, während er doch eigentlich nur repariert“, merkt der Künstler im Begleittext an. Die Installation legt nahe, dass es vielleicht die verschiedenen Wissenssysteme auf der Welt sind ‒ voneinander getrennt durch das Aufkommen der modernen Wissenschaften und der Geschichte, gewissermaßen durch die Erfindung der Erfindung ‒, die durch Erfindungen repariert werden, allerdings nicht in dem Sinne, dass getrennte Bereiche wieder zu einer ursprünglichen Einheit zusammengeführt werden, sondern dass sowohl Unterschiede als auch Nähe sichtbar werden. In einem Kuriositätenkabinett voller Bücher und Artefakte verbindet Attia die Geschichte der Astronomie in Europa und der muslimischen Welt mit der biblischen Geschichte von Jakobs nächtlicher Vision der Himmelsleiter. Ein schwindelerregender, ins Unendliche strebender, mit Licht erfüllter Pfeiler ragt über den Köpfen der Besucher*innen empor. Er ist eine Illusion aus Spiegeln, die letztlich eine primäre Selbsttechnologie sind, wesentlich für die Optik und somit für die ersten teleskopischen Beobachtungen des Weltraums, aber auch für die Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild, mit dem scheinbar äußeren Selbst, dem Selbst als Anderen. Doch eine solche Spaltung ist in Attias optischer Täuschung nicht zu erkennen. Stattdessen bietet er die Vision eines lieu-commun, wo wissenschaftliche Neuerungen auf die Traumlogik der Parabel treffen und wo Subjekte des Wissens, Objekte des Wissens und Wege des Wissens einander weder gegenüberstehen noch ergänzen, sondern eng miteinander verknüpft sind.