In Großbritannien gab es den Wettbewerb The school I’d like in den Jahren 2001 und 2011, der umfangreich vom Guardian begleitet wurde.* Hierzulande gibt es nun erstmals ein Projekt ähnlicher Größenordnung. Ist Großbritannien Deutschland in Sachen Schul-Demokratie voraus?

Nein, das denke ich nicht. Nur zum Vergleich: Der Wettbewerb, der 2001 in Großbritannien stattfand, hatte als Ausgangspunkt beispielsweise die Debatten über die Privatisierungen von Schulen. Dabei ging es um die desaströsen Infrastrukturen an staatlichen Schulen, um damit verbundene soziale Fragen und um ein insgesamt marodes Schulsystem. Die politische Agenda war eine ganz andere als hier in Deutschland, wo es derzeit in der Folge von PISA vor allem um Ganztagslernen, Lernergebnisse und Leistungsdruck geht. Thematisiert wird in diesem Kontext auch die Frage, wie ein angemessenes Lernumfeld für Kinder aussehen könnte. Es geht also um vieles, was Reformpädagog*innen schon vor über hundert Jahren diskutiert haben.

Über die Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik ist Schools of Tomorrow im Rahmen des Langzeitprojektes 100 Jahre Gegenwart entstanden. In wieweit beeinflussen die pädagogischen Ansätze von damals noch das schulische Geschehen von heute?

Ehrlich gesagt sind wir heute gar nicht so viel weiter als damals. Viele der reformpädagogischen Ideen sind in den vergangenen hundert Jahren nämlich nicht umgesetzt worden. Als sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert wurden, ging es unter anderem darum, die sozialen Umwälzungen der damaligen Zeit auch an Schulen zu thematisieren. Das betraf vor allem die industrielle Revolution, deren Auswirkungen mit Schüler*innen kaum besprochen wurden. Globalisierung und Digitalisierung sind heute letztlich nur Fortschreibungen desselben Themas. Aber auch heute reagieren die Schulen kaum ausreichend darauf.

Wie zeigt sich das konkret? Was wünschen Schüler*innen sich beispielsweise in Punkto Digitalisierung von ihren Schulen?

Kinder ab einem gewissen Alter, vor allem nach Abschluss der Grundschule, wünschen sich deutlich mehr Nutzungsmöglichkeiten von digitalen Medien im Schulalltag. Mehr Handyzeit und ständigen WLAN-Zugang haben viele gefordert, einfach weil Digitalität längst Teil ihres Alltags ist. Sie wünschen sich Geräte, auf denen all ihr Lehrmaterial gespeichert ist. Homeoffice-Tage, an denen der Unterricht von zu Hause per Video verfolgt werden kann, oder digitale Stundenpläne, die gemeinsam mit den Lehrer*innen verwaltet werden. Tatsächlich wird derzeit auch in vielen Bundesländern Geld in die Digitalisierung an Schulen investiert. Das Problem: Eine umfassende Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien ist bislang weder bei Eltern noch bei Lehrenden vorhanden.

Die Mehrzahl der Schüler*innen scheint sich neben mehr Digitalität aber auch ein Umfeld zu wünschen, in dem der Stress und die Schnelllebigkeit ihres Alltags ein Stück weit ausgeblendet werden können.

Interessanterweise ist auch die Forderung nach ruhigen Lernumfeldern überhaupt nicht neu. Die Idee, das Schulzimmer zu einer Art „Schulwohnstube“ umzugestalten, gab es bereits in der Jenaplan-Pädagogik, die selbstständiges Arbeiten und gemeinschaftliches Lernen zwischen Schüler*innen, Lernbegleiter*innen und Eltern in den 19020er Jahren in den Fokus rückte. Und bei den Fünf- bis Zehnjährigen ist der Wunsch nach ähnlichen Konzepten noch immer sehr ausgeprägt. Gerade Grundschüler*innen wünschen sich nicht nur Ruheräume zum Lesen und Entspannen sondern auch richtige Schlafräume. Ein paar Ältere hätten Schulpsycholog*innen gerne stärker an ihrer Seite, die ihnen als Coaches durch den stressigen Alltag helfen. Manche wollen Schwimmbäder und Arbeitsmöglichkeiten im Schulgarten. Und erstaunlich viele Schüler*innen wünschen sich, gemeinsam für das Schulessen verantwortlich zu sein. Insgesamt geht der Trend in den Einsendungen also sehr in Richtung selbstbestimmtes und gemeinschaftliches Schulleben. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass viele Kinder in Deutschland heute mit einem Ganztagssystem klar kommen müssen.

Der Druck, dem sie an langen Schultagen ausgesetzt sind, kommt von verschiedenen Seiten: Eltern und Lehrendeaber auch Bildungspolitiker*innen scheinen Kinder immer früher und effizienter auf das spätere Berufsleben vorbereiten zu wollen. Wie haben die Schüler*innen mit ihren Vorschlägen darauf reagiert?

Ich fand es auffällig, wie viele von den älteren Schüler*innen sich selbst alltagsrelevantere Lerninhalte gewünscht haben. Das Thema Steuer beispielsweise tauchte mindestens zwanzigmal auf. Der Wunsch nach derartigen Inhalten sagt viel über die Hintergründe der Teilnehmer*innen aus: über 75 Prozent Gymnasiast*innen und überdurchschnittlich viele Einsendungen aus stark urbanisierten Gegenden. Aber es beschreibt auch die generellen Anpassungsmechanismen der Jugendlichen. Es ist eben nicht nur die Politik, die darauf drängt, dass Schule ausreichend auf Jobs und Alltag vorbereitet, sondern es sind auch die Kids selbst. Ich vermisse da ein wenig das rebellische Element, wenn ich bei Jugendlichen beobachte, wie sehr sie sich ins System integrieren wollen. Aber das hat natürlich auch mit einem Schulsystem zu tun, das noch immer als Disziplinierungs- und Produktionsinstrument agiert.

Bei Vorschlägen zu den Lernformen blitzt an vielen Stellen aber schon eine Art Widerständigkeit durch, oder?

Ja, bei den Lernmethoden auf jeden Fall. Da ging es von gemeinschaftlichem Lernen über Feedback-Sessions für die Lehrer*innen bis hin zu Unterwasserschulen. Inhaltlich war auch sehr vieles spannend, zum Beispiel der Wunsch nach Logik- oder Erste-Hilfe-Unterricht. Manches dagegen schien mir eher rückwärtsgewandt, gerade was den Umgang mit anderen Kulturen anging. Der Wunsch nach „Völkerverständigung“ oder „Internationalem Lernen“ erinnerte ein wenig an die Slogans der 1980er und 1990er Jahre. Aus deutschen Auslandsschulen kamen zu diesem Thema aber auch sehr praktische Ansätze: Deutsche Schüler*innen aus Barranquilla schickten beispielsweise Vorschläge für einen Schulbus, der als mobile Lerngelegenheit über die Dörfer fahren sollte. Nicht ganz so schlüssig schien mir dagegen die Idee von Kampfdrohnen, die über Schulen fliegen sollten, um Sicherheit zu garantieren.

Einige der Ideen sind so realistisch, dass sie sich zumindest an einzelnen Schulen sofort umsetzen lassen könnten.

Stimmt, eine Schule will sogar den Architekturvorschlag einer Schüler*innengruppe in den Bau neuer Gebäude mit aufnehmen. Und auch im Kleinen könnte mehr Mitbestimmung gut funktionieren: Anti-Mobbing-Projekte, Nutzgärten an Schulen, mehr soziale Verantwortung im Schulumfeld übernehmen. Der vielleicht eindringlichste Wunsch von vielen Teilnehmer*innen zeigt jedoch, wo die Basisprobleme liegen: Sehr viele Schüler*innen wünschen sich schlicht saubere Toiletten.

Wie schätzen Sie die Nachhaltigkeit des Wettbewerbs darüber hinaus ein?

Bei der politischen Ausstrahlung bin ich mir nicht ganz sicher. Viele der Inhalte, die von den Jugendlichen angesprochen wurden, sind in den Medien weiterhin kaum Thema. Und noch immer wird nicht umfassend diskutiert, wie wir ein Schulsystem und einen Schulalltag überwinden können, die noch von den preußischen Strukturen des 19. Jahrhunderts geprägt sind. Darüber müssen wir reden. Über Hierarchieverständnisse, Kinderrechte im Grundgesetz und rigide Systeme, die von Grund auf verändert werden müssten, um Schüler*innen wirklich mitbestimmen zu lassen. Dieser Wettbewerb ist definitiv ein Anfang. Denn allein die Tatsache, überhaupt einmal selbst danach gefragt zu werden, wie sie sich Schule vorstellen, wird auf viele Teilnehmer*innen bleibende Auswirkungen haben.

*Anm. d. Red.: Die britische Zeitung The Guardian veröffentlichte in den Jahren 2001 und 2011 zwei „Children’s Manifestos“, die aus zwei The school I‘d like-Wettbewerben hervorgingen. Die Wettbewerbe wiederum gehen zurück auf den Vorläufer Do you like your School? aus den 1960er Jahren, der ebenfalls von The Guardian begleitet wurde. Das Konzept der jüngsten Wettbewerbe wurde mit freundlicher Genehmigung von Dea Birkett übernommen und vom HKW weiterentwickelt.