Die Verbindung zwischen Krieg und Musik ist vielschichtig und beginnt vermutlich mit der Entstehung der Musik selbst. Warum ist gerade der Erste Weltkrieg Ausgangspunkt für dieses Festival?

Bernd Scherer: Zum einen, weil es derzeit dieses Datum des Erinnerns gibt – 100 Jahre Erster Weltkrieg. Zum anderen, weil eben auch die derzeitigen Kriege immer weiter nach Europa drängen und damit zu uns zurückkehren. Wir wollten wissen, wie diese Kriege sich artikulieren. Denn tatsächlich gibt es ja eine enge Beziehung zur Musik und auch – bezogen auf den Ersten Weltkrieg – zu Technologien, die später für die Musik eine zentrale Rolle spielen.

Holger Schulze: Außerdem sind mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zweiten umso mehr, Zivilkriege entstanden, die auf einmal überall stattfinden konnten und es heute immer noch tun. Nach den gemütlichen 70ern und 80ern in der BRD können wir uns nun nicht mehr der Illusion hingeben, die aktuellen Kriegshandlungen hätten nichts mit uns zu tun. Seit 1989 haben sie das wieder. Und musikalische Praktiken – ob als Widerstandsmusik oder Soldatenunterhaltung – spiegeln das.

Im Programmheft werfen Sie die Frage auf, ob das Kriegerische in der DNA zeitgenössischer Musik steckt. Tut es das denn?

Detlef Diederichsen: Bezogen auf technologische Entwicklungen: auf jeden Fall. Sämtliche Technologien, die einst für kriegerische Zwecke genutzt wurden, hat man ja weiterentwickelt, sodass sie heute eine zentrale Rolle im Musikbereich spielen – von Lautsprechern über Tonbandgeräte bis hin zum Rundfunk. Man kann sich also schon fragen, inwieweit die Geschichte dieser Technologien heute noch die Musik beeinflusst. Ich zumindest finde den Gedanken unheimlich, dass gewisse Bereiche der Musik diesen doch eher gruseligen Ursprung haben. Das ist fast so, als würde man Kalaschnikows als Alltagspielzeuge benutzen.

Holger Schulze: Stimmt, auch weil die Formen, die wir heute in der Musik nutzen –Verzerrung beispielsweise – nicht zu ihrem Genuss entwickelt wurden, sondern in militärischen Laboren. Und im umgekehrten Sinne werden heute ja auch Kriegsbotschaften und hetzerische Propaganda durch Musik vermittelt.

Bernd Scherer: Beispielsweise durch die Musikvideos des IS, die ja übrigens nicht nur an ein Publikum im Nahen Osten gerichtet sind, sondern global funktionieren. Die also auch den Nerv einzelner Jugendlicher in unserer Gesellschaft treffen. Da hält etwas Einzug in unser Leben, für das Musik als wesentlicher Transporteur eingesetzt wird.

Musik kann im Zusammenhang mit Krieg aber auch Ermächtigung im positiven Sinne bedeuten.

Detlef Diederichsen: Ja, auch das reflektieren wir, beispielsweise in unserem Calypso-Programm. Diese Musikrichtung, die es seit dem späten 19. Jahrhundert gibt, ist dafür bekannt, dass sie aktuelle Neuigkeiten kommentiert. In den 1930er und 40er Jahren kommunizierte sie in der Karibik an den britischen Kolonialherren vorbei und kommentierte deren Aktivitäten und ihre teils befremdlichen Rituale. Diese Lieder dokumentieren den Umgang mit einem mehr oder weniger unbekannten Europa, in dem ein Herr Hitler zunächst bestenfalls ein Name war und man die Angst der Briten vor ihm kaum nachvollziehen konnte. Diese exotistische Wahrnehmung von Europa finde ich hochspannend.

Holger Schulze: Vielleicht noch ein anderes Beispiel. Im Projekt Lautarchiv arbeiten Künstler mit den Stimmen von Kriegsgefangenen, die damals weltweit in deutschen Lagern aufgenommen wurden. Die Schellackplatte wurde benutzt, um die Gefangenen zu „archivieren“: Kriegsgefangene aus Europa, Afrika und Asien, die sich nicht wehren konnten und dazu gezwungen wurden, fürs Archiv zu reden oder zu singen. Es bezeugt die Entmündigung der Menschen durch Technologie, die mit dem Chor des HKW – das zumindest ist der Versuch – nun auf eine andere Ebene gebracht werden soll. Das Ganze wird damit zwar nicht aufgehoben, aber doch immerhin transformiert.

Das Erzählen vom Krieg bedeutet oft, die Schwellen des Erzählbaren zu überschreiten – welche Aufgabe kann Musik dabei noch übernehmen?

Detlef Diederichsen: Als naheliegendes Beispiel aus dem Programm fällt mir Songhoy Blues  ein, eine Band, die sich nach der Flucht aus Timbuktu im Flüchtlingscamp in Bamako gefunden hat. Ihre Erfahrungen thematisieren sie natürlich über die Sprache. Aber schon die Tatsache, dass sie überhaupt Musik spielen, die von den Extremisten des Landes kategorisch abgelehnt wird, sendet ja eine Botschaft.

Holger Schulze: Ich würde zwischen Erzählen und Singen auch gar keinen klaren Bruch signalisieren, eher eine Kontinuität. Auch Musik und Gesang können doch direkt in den Horror reingehen. Genauso in einem perfiden Umkehrschluss: Die Foltermethoden in Guantanamo werden schließlich oft mit Musik unterlegt, die wir kennen und lieben, und sie werden in unserem Namen angewandt. Die Waffen, mit denen Menschen das Gehör zerstört wird oder mit denen innere Blutungen erzeugt werden, werden zum Schutz westlicher Werte eingesetzt. Und darüber muss man sich klar sein: dass Musik in ihrer Form als erzählerisches Medium eng verknüpft ist mit dem Leid, von dem sie berichten kann.

Bernd Scherer: Weil Musik eine Ebene hat, die Totalität erzeugen kann, was das Erzählen in dieser Form nicht kann. Aus dem Erzählen kannst Du immer aussteigen, aus der Musik nicht.

Sie eignet sich vielleicht gerade deshalb auch als Aufarbeitungs- oder Verarbeitungsinstrument. Wie reflektieren Sie das in Ihrem Programm?

Holger Schulze: Wir konzentrieren uns nicht so sehr auf das Thema Trauer, sondern auf die Metaphern Klage und Glorie. Helden, die besungen und überhöht werden, spielen eine Rolle, aber auch Märtyrer, die beklagt werden, und diese heiße Gemengelage des Erinnerns, die Siege größer und den Tod noch grauenvoller erscheinen lässt. Denn daraus entsteht oft gleich der Start fürs nächste Gemetzel. Mancher Klagegesang um die Toten ist schon zum aufrührerischen Wutgesang für den nächsten Krieg geworden. Auch das ist eine erschreckende Kontinuität, die uns beschäftigt.

Wie gehen Sie damit um, dass sich eventuell auch Menschen Ihr Programm anhören, die erst vor kurzem selbst Kriegserfahrungen gemacht haben?

Holger Schulze: Tatsächlich haben wir Anfragen aus verschiedenen Flüchtlingsunterkünften bekommen. Wir werden also auch Gäste haben, deren Kriegserlebnisse zum Teil noch sehr frisch sind. Einige Beiträge könnten dadurch für manche Zuschauer zur intensiven Erfahrung werden. Bei den meisten Programmpunkten wird es wohl trotzdem eher bei der reflexiven Auseinandersetzung bleiben. Schon durch die unbekannte Materie. Denn historisch habe ich vielleicht erst mal gar keine Ahnung von postkriegerischen Gesängen aus Vietnam und erarbeite mir das Wissen erst durchs Konzert. Gerade die Vielfältigkeit der behandelten Regionen ist beim Programm ein entscheidender Aspekt. Weil er unterstreicht, wie eng alles miteinander zusammenhängt und wie überall in den aktuellen Kriegen ähnliche Mechanismen greifen.

Warum kommt in diesem Zusammenhang die pazifistische Musik eigentlich gar nicht vor?

Detlef Diederichsen: Das hätten wir gerne gehabt, aber die Protagonisten dieser Musik scheinen schlicht nicht nachzuwachsen. Pete Seeger ist gerade gestorben, Joan Baez ist vielleicht noch unterwegs, Country Joe Mc Donald auch, aber das sind alles grauhaarige Senioren. Selbst zu Zeiten des Irak-Krieges gab es eigentlich wenig neue, dezidiert gegen den Krieg gerichtete Musik oder Songs. Vielleicht hat das auch mit den Dimensionen zu tun. Der Vietnamkrieg war ein derartiger Bodycount und für diese Generation ein so entscheidendes Thema, weil damals noch jeder junge Mann eingezogen werden konnte, jeder aus seinem Leben herausgerissen. Ich finde es trotzdem eine unglaublich deprimierende Botschaft zu sagen, seit den 70er Jahren ist den Leuten zum Thema Frieden nichts Neues mehr eingefallen. Die Kids von heute hören Death Metal und Narco Hip-Hop oder ähnliches.

Holger Schulze: Eine wichtige politische Agenda unseres Programms ist deshalb, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie nahe uns die Kriege wieder kommen. Dass sie nicht fern, sondern auf uns bezogen und von uns mitgestaltet sind. Auch in diesem Moment wird für uns gefoltert oder irgendwo einmarschiert.