Rana Dasgupta, Nanna Heidenreich, Katrin Klingan (Die Kurator*innen): Steht der Staat des 21. Jahrhunderts für das Ende der Wahrheit und die Rückkehr der Mythen? Und endet Wahrheit nunmehr dort, wo die rhetorische Macht der Unwahrheit beginnt?

Slavenka Drakulić: Sie meinen offenbar die gegenwärtigen Veränderungen in unserer postfaktischen Trump-Welt. Tatsächlich sieht es momentan so aus, als hätten alle Werte und sogar einige Wörter plötzlich eine andere Bedeutung. Das ist deprimierend, aber vielleicht auch nur kurzlebig. Wir wissen aus der Geschichte, dass ein einzelner Mensch gefährliche Prozesse anstoßen kann. Aber das Bewusstsein für diese Gefahr ist heute viel größer. Wenn Sie mich fragen: Auch in Trumps Amerika können sich Tatsachen und Vernunft immer noch durchsetzen.

Die Kurator*innen: Ist Wahrheit messbar? Und welche Maßstäbe haben wir heute, wenn es darum geht, legitime Begründungen oder Tatsachen zu beweisen?

Slavenka Drakulić: Nun, in Srebrenica wurden die Leichen gezählt. Diese Zahlen sind Tatsachen. Sie sind Teil der Wahrheit über den Krieg in Bosnien und Herzegowina. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gerichte wegen Persönlichkeiten wie Trump die Definition eines Beweises ändern. Oder dass Beweise in nationalen oder internationalen Gerichtsverfahren künftig einen anderen Stellenwert haben als bisher. Es sei denn, es käme zu einem politischen Umsturz.

Die Kurator*innen: Und was hat die Wahrheit mit einer Geschichtsschreibung zu tun, die über Nationalerzählungen hinausgeht?

Slavenka Drakulić: Wir wissen auch 20 Jahre nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien noch nicht, was genau geschehen ist. Die Bürger*innen der einzelnen Länder haben bis heute nichts als das, was früher „offizielle“ Geschichte hieß. Und diese war keine, da ihre Erzählung unmittelbar der Kommunistischen Partei unterstand. In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Geschichte unter den Einfluss nationalistischer Ideologie geraten. Daneben existieren noch die Erinnerungen Einzelner, die oft im Widerspruch zur „offiziellen“ Geschichte stehen. Alle Versuche, beispielsweise Schulbücher aus einer objektiveren Sicht zu schreiben, sind gescheitert. Machthabern ist Ideologie lieber als reflektierte Geschichte; sie nutzen sie, um nationalistische Leidenschaften zu entfachen.

Die Kurator*innen: Was bedeutet es für völkerrechtliche Institutionen wie den Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICTY in Den Haag, wenn sie sich mit den Folgen nationalistischer Gewalt auseinandersetzen müssen?

Slavenka Drakulić: Die Kapazitäten des Strafgerichtshofs waren beschränkt, seine Verfahren hatten wesentlich Symbolcharakter. Für mich liegt die größte Leistung des ICTY eher darin, dass es nach der Wahrheit über die Kriege in Bosnien, Kroatien und im Kosovo gesucht hat. Denn mit jedem Fall kam die Wahrheit ein Stück weit deutlicher zum Vorschein. Hätte man es den beteiligten Parteien überlassen, so gäbe es heute offiziell weder das Massaker von Srebrenica, noch die Massenvergewaltigungen von Frauen, noch die Bombardierung einer Brücke in Mostar.

Die Kurator*innen: Worin sehen Sie das größte Hindernis für Gerechtigkeit nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien?

Slavenka Drakulić: Wir sprechen von Ländern, deren nationalistische politische Eliten meinen, ein Soldat, der seine Heimat verteidigt hat, könne kein Kriegsverbrechen begangen haben. Unter solchen Umständen kann sich eine unabhängige Justiz kaum entwickeln. Das größte Hindernis für die Gerechtigkeit ist, dass immer noch die „offizielle“ Geschichte und nicht die Wahrheit unseren Lebensalltag und unsere Rechtsprechung dominiert.

Das Interview führten Rana Dasgupta, Nanna Heidenreich und Katrin Klingan.