Kann man sagen, dass es bei der Oktoberrevolution gar nicht um Sozialismus und Kommunismus ging, sondern eigentlich um „Immortalismus und Interplanetarismus“, wie die Biokosmisten 1922 behaupteten? Müssen wir die Geschichte umschreiben?

Nein, das glaube ich nicht. Die Oktoberrevolution wurde von der Bolschewistischen Partei geplant, und das war eine streng marxistische Organisation, die ganz bestimmte politische Ziele verfolgt hat. Auf der anderen Seite hat der Umbruch von der alten zu einer vollständig neuen Ordnung bei vielen Intellektuellen und Künstler*innen die Hoffnung geweckt, das Leben radikal anders zu gestalten, bis hin zu den Möglichkeiten des Wohnens im kosmischen Raum. Man träumte davon, sich nicht mehr durch Sexualität zu vermehren, sondern durch technische Verfahren, nicht mehr auf Schlaf angewiesen zu sein und ewig jung zu bleiben. Es war eine Zeit, in der diese gar nicht ganz neuen Hoffnungen auf historisch einmalige Weise reaktualisiert und intensiviert wurden.

Sie haben etwa 50 Arbeiten des griechischen Kunstsammlers George Costakis für Ihre Ausstellung im HKW ausgewählt. Können Sie etwas über diese Auswahl sagen?

Mich hat immer die zweite Phase der Russischen Avantgarde interessiert. Ich fand die 1920er-Jahre in diesem Zusammenhang immer besonders interessant, weil sie neo-figurativ und komplex sind, und weil die Kunst in dieser Phase soziale Realitäten in sich integriert hat. Interessanterweise findet man in der Sammlung Costakis viele Werke aus dieser Zeit. Das liegt wohl daran, dass westliche Museen dazu tendiert haben, diese zu übersehen, weil sie nicht der kanonischen Vorstellung von abstrakter Avantgarde-Kunst entsprachen. Vielleicht sind deshalb viele Werke dieser Phase in Costakis‘ Heimat Griechenland geblieben.

Ich habe Arbeiten aus der Sammlung Costakis ausgewählt, die sich auf der Grenze zwischen Abstraktion und Science-Fiction bewegen. Zum Beispiel kann das Rote Licht von Iwan Kljun (1923) als rein abstrakte Form aufgefasst werden – oder eben als ein Planet im Kosmos. Einige Arbeiten sind auch direkte Darstellungen, beispielsweise von kosmischen Geräten, kosmischen Reisen oder der Auferstehung, gemalt im konstruktivistischen Stil der Russischen Avantgarde.

Lassen Sie uns über einzelne Künstler Ihrer Ausstellung sprechen. Ich wüsste gern mehr über Solomon Nikritin.

Ich halte Solomon Nikritin für einen der interessantesten russischen Künstler des 20. Jahrhunderts. Man kann ihn vergleichen mit Andrej Platonov in der Literatur. Er hat eine unglaubliche Fähigkeit, sich von Dingen begeistern zu lassen und sich gleichzeitig ironisch zu distanzieren. Da gibt es beispielsweise zwei schwarze Quadrate, die er – von Malewitsch – appropriiert hat. So etwas findet man eigentlich erst in den USA der 1960er-Jahre. Genau genommen ist das radikaler als im amerikanischen Minimalismus.

In den 1930er-Jahren wurde Nikritin Formalismus vorgeworfen, ein damals höchst gefährlicher Vorwurf. Er durfte in der Sowjetunion bis zu seinem Tod 1965 nicht mehr ausstellen.

Eines seiner Bilder, Das Alte und das Neue, aus dem Jahr 1935 wurde vom sowjetischen Künstlerverband ausgewählt, um ein Exempel zu statuieren. Zufälligerweise wurde das Stenogramm der Diskussion über das Bild von Kurt London im Westen publiziert. In der gesamten Zeit des Kalten Krieges war es das wichtigste Dokument über die kunstrelevanten ideologischen Diskussionen in der Sowjetunion. Nikritin hat deswegen eine große historische Bedeutung. In Russland ist er aber vor allem für ein anderes Bild bekannt, das er in den 1930er-Jahren gemalt hat, Volksgericht. Es ist das berühmteste Bild, das die Atmosphäre der Schauprozesse evoziert. Ein sehr düsteres Bild. Solomon Nikritin ist also sehr vielfältig, sehr kompliziert und sehr interessant.

Gustavs Klucis wurde 1938 verhaftet und kurz darauf erschossen.

Klucis hat dieselbe Entwicklung durchgemacht wie alle anderen im Kontext der Linken Kunstfront (LEF), zum Beispiel Rodchenko. Klucis war sehr talentiert und einige seiner Fotocollagen wurden später abgemalt von Künstler*innen des Sozialistischen Realismus. Er wurde wegen seiner politischen Verbindungen verhaftet und erschossen, nicht wegen seiner Kunst. Er ist in die Kampagne der Eliminierung der Parteiopposition hineingeraten.

In Ihrem Buch Gesamtkunstwerk Stalin haben Sie beschrieben, wie die Ideen der Russischen Avantgarde zur totalitären Kunst unter Stalin werden konnten, was einige Debatten auslöste. Kann es sein, dass Ihre Position in Art Without Death etwas milder geworden ist?

Ich glaube, das war damals ein großes Missverständnis. Ich war nie kritisch in Bezug auf die Russische Avantgarde. Sie hat mich immer fasziniert. Es ging darum, dass Künstler*innen sich nicht mehr auf die Produktion bestimmter Objekte beschränken wollten. Dass sie anfingen, die Kontexte zu gestalten, in denen ihre Werke zirkulierten. Für mich steht die (russische) Avantgarde für die Expansion des Kunstwillens auf die Außenwelt. Ich habe das nicht kritisch gesehen, sondern als unausweichlich. Ich denke auch nicht, dass es ein falscher Weg war, sondern der einzig mögliche.

Natürlich muss man auch die Konsequenzen dieses Willens betrachten, zum Beispiel den Versuch, politische und künstlerische Macht zu vereinen. Das war die Kunst der 1930er-Jahre: die Stalinistische Epoche. Nach dem Krieg hat sich diese Entwicklung wieder auf die Kunstszene beschränkt. Aber die Prozesse, die in den 1910er- und 1920er-Jahren begannen, wirken noch heute, auch wenn sie nicht mehr dieselbe Virulenz haben. Es wäre absolut absurd, so etwas zu kritisieren. Genauso absurd wäre es, die Kunst an sich zu kritisieren. Es ist einfach so gelaufen. Und genau so habe ich versucht, es zu beschreiben.

Zurück zu den Ideen der Kosmisten. In George Orwells 1984 heißt es: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“

Orwell hat das sicherlich elegant parodiert. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der die Vergangenheit ständig neu geschrieben wird. Das ist ein repetitiver Prozess. Was die Biokosmisten wollten, war jedoch eine Revolution. Eine re-volution, eine Rückkehr, aber eine einmalige Rückkehr. Bei der die Zukunft darin besteht, dass man die gesamte Vergangenheit rekonstruiert.

Und wie kommt das Neue in so eine Welt, wo allein das Vergangene wiederhergestellt wird?

Das Neue kommt nicht in diese Welt. Das Neue ist nur ein Zeichen der schlechten Unendlichkeit. Das Neue ist etwas, das bestenfalls vom Markt verlangt wird. Ich werde auf der Konferenz im HKW darüber reden: darüber, dass die absolute Erleuchtung bei den Buddhisten in der Macht zur Selbstgeburt liegt. Vielleicht wissen Sie, dass in vielen buddhistischen Sekten die absolute Erleuchtung derjenige erreicht, der das Paar im Moment der Kopulation wählt, das ihn später durch diesen Akt gebiert? Er wird dadurch der Vorfahr seiner selbst. Und der Vorfahr seiner Vorfahren. Das ist die Idee. Die Macht, sich selbst zu produzieren, indem man die Welt, die einen produziert hat, umgestaltet, sodass am Ende das kommt, was man selbst will.

Sind wir den Gedanken Nikolaj Fjodorows, der den Biokosmisten nahe stand, heute vielleicht näher, als wir meinen? Viele Ideen des Transhumanismus sind ja denen des Biokosmismus nicht unähnlich: Verbesserung des Menschen durch Technologie, das Hochladen unseres Bewusstseins in Maschinen oder das Einfrieren des menschlichen Körpers für eine Zukunft mit besseren Heilmethoden. Ob die kalifornischen Transhumanisten die russischen Biokosmisten kannten?

Ja, natürlich. Fjodorow wurde ins Englische übersetzt, Alexander Chizevsky lag auf Englisch vor. Sie wurden auch in den Sozialwissenschaften und in der Ökonomie rezipiert. Allerdings scheint mir, dass diese transhumanistische Bewegung heute nicht revolutionär ist. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der Traum, gemeinsam die Vergangenheit wieder lebendig zu machen, ist äußerst unamerikanisch, und in Kalifornien nicht zu beobachten. Außerdem scheint diese ganze Entwicklung momentan eher fantastisch als plausibel zu sein.

Inwiefern?

Weil es hier eine entscheidende ontologische Grenze gibt: Wenn Sie einen Computer kaufen, ist er in zwei bis drei Jahren nicht mehr zu gebrauchen, weil sich die Technik so rasend schnell entwickelt. Wenn Sie sich nun vorstellen, dass ein transhumanistisches Wesen geschaffen wird, dann ist dieses Wesen in zwei bis drei Jahren obsolet. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Geschwindigkeit von Innovation und das Veralten dieser Innovationen fast angeglichen haben.

Diesen Prozess zu stabilisieren, sodass man den Menschen konsekutiv updaten kann, bedeutet die Kontrolle über die nächste Generation. Aber jede Generation hält ihre Eltern für komplette Idioten. Das ganze heutige politische, ökonomische, soziale und technologische System enthält kein Versprechen einer Kontinuität mehr, das für ein solches Unternehmen von grundlegender Bedeutung wäre.

Das Gleiche gilt für das Museum. Wenn die Kosmisten über das Museum sprechen, meinen sie eine permanente Sammlung. Permanente Sammlungen sind heute aber fast verschwunden. Das Museum ist zur Theaterbühne für wechselnde Veranstaltungen geworden. Wir sind eingetreten in ein Zeitalter, das keine Kontinuität mehr verspricht. Wie Walter Benjamin richtig gesagt hat, braucht man eine Revolution, um den Progress zu stoppen. Dann kann man in ein kontinuierliches Projekt einsteigen. Aber ohne Revolution sieht es schlecht aus für den Transhumanismus.