Binyam Mohammed al-Habashi, äthiopischer Staatsbürger, seit 1994 legal in Großbritannien ansässig, wurde angeklagt, mit hochrangigen „illegalen Kombattanten“ – sprich: mutmaßlichen Terroristen – unter einer Decke zu stecken. Nach einem längeren Aufenthalt in Afghanistan war er im April 2002 am Flughafen von Karachi festgenommen worden. In Marokko wurde er mehrstündigen Folterungen unterworfen: Seine Wächter schnitten ihm mit einem Skalpell in den Penis und ließen ihn bluten. Diese Prozedur wiederholte sich zwanzig bis dreißig Mal, 18 Monate lang. Während seine Wunden heilten, wurde Binyam Mohammed an den Fußboden gekettet und gezwungen, über Kopfhörer Meat Loaf und Aerosmith zu hören. In diesen anderthalb Jahren sah er weder Tageslicht noch durfte er in Ruhe schlafen. Beim Verhör sagte ihm jemand: „Wir werden Dein Gehirn verändern.“ Später, in einem dark prison in Afghanistan, war er drei Tage und Nächte lang – an Ketten aufgehängt – Eminems „The Real Slim Shady” und Halloween-Gelächter ausgesetzt. Seine Beine schwollen an, sie waren bis zur Unkenntlichkeit deformiert.

Musikfolter ist eine von mehreren Methoden, die als no touch torture bezeichnet werden und darauf abzielen, die Psyche des Gefangenen zu zerrütten. Diese Methode hinterlässt keine Narben wie Brandmale, abgehackte Finger oder Wunden nach Peitschenhieben, die überlebenden Opfern helfen, ihre Folterungen dokumentieren zu lassen. Extreme Temperaturen, fingiertes Ertrinken, Schlafentzug und tagelang lautstarke Musik erzeugen dagegen keine sichtbaren Spuren. Wie ein Graffiti im inzwischen geschlossene Camp Nama es ausdrückte: „no blood – no foul!“ Was nicht zu sehen ist, hat nicht stattgefunden…

No touch torture wurde für eine elektronische Überwachungsgesellschaft entwickelt, in der sich Bilder schnell verbreiten. In Diktaturen werden gemarterte Körper ausgestellt, um Macht und Härte zu demonstrieren, aber in Demokratien macht sich das nicht so gut. Hier werden Foltermethoden gerne mit Euphemismen wie „strenge Befragung“ getarnt, die Folter selbst findet im Verborgenen statt, mit Methoden, von denen niemand so richtig etwas weiß – oder wissen will. Der damalige Vizepräsident Dick Cheney kündigte schon im September 2001 an, die USA werde „on the dark side” arbeiten.

Nach dem 11. September 20012 gab es Folter mit Musik im Gefängnis Abu Ghraib (32 Kilometer westlich von Bagdad), in Guantánamo (Kuba), auf der Bagram Air Force Base (Afghanistan), im Camp Nama (Bagdad), auf der Forward Operating Base Tiger (Al-Qaim, Irak), auf der Mosul Air Force Base (Irak), im Camp Cropper (Bagdads internationaler Flughafen) und anderen „dark sites“ der CIA.

Wie in den meisten Fällen entsprechen die Werkzeuge dem Ad-hoc-Prinzip, das heißt, es handelt sich um Alltagsgegenstände, wie es sie in jedem Lager gibt: Sandsäcke, Container, CDs. Die CIA hat zwar den Gebrauch von „loud music“ empfohlen, es gibt aber weder eine zentral genehmigte Musikliste noch konkrete Vorschläge: Man hat einfach die Tracks genommen, die Soldaten auf ihren iPods, Notebooks oder auf CD gespeichert hatten. Gewöhnliche, alltägliche Ausrüstung erweckt keine Aufmerksamkeit. Aber der Missbrauch von Musik als „sonic coercion“ ist Teil der „standard operating procedure“, wie die Musikforscherin Suzanne Cusick nachgewiesen hat.

Eines der bekanntesten Beispiele für Musik, die im Zusammenhang mit Folter benutzt wurde, ist der Song I love you aus dem amerikanischen Fernsehprogramm für Kinder Barney & Friends. Angeblich war dieser Song Teil des SERE-Trainings (survival, evasion, resistance and escape) der amerikanischen Elitesoldaten, bei dem sie selbst den Methoden des Kubark-Verhörhandbuchs ausgesetzt werden, um zu lernen, wie man widerstandsfähiger wird.

Andere Beispiele zeigen, dass die verwendete Musik identisch ist mit derjenigen, die die Soldaten selbst hören, um vor gefährlichen Missionen und Patrouillen das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Der Song Reign in Blood der populären Heavy-Metal-Band Slayer ist nur ein Beispiel für die breite Auswahl an Rap, Rock, Pop, Country, Heavy Metal etc., die zum Alltag der Soldaten gehört. Andere Songs, die bei Folter zum Einsatz kamen, und zwar in Loops von 24, 48 oder 72 Stunden – und oft über einen längeren Zeitraum hinweg –, sind Saturday Night Fever (Bee Gees), Shoot to Thrill (AC/DC), All Eyes on Me (Tupac), America (Neil Diamond), Raspberry Beret (Prince), Metallicas Enter Sandman und der Meow-Mix-Jingle aus einer Reklame für Katzenfutter. Und es gibt viele andere mehr.

Musikfolter kennt verschiedenste Spielarten. Der Dokumentarfilm The Road to Guantánamo illustriert ein Szenario mit kleinen, aus Sperrholz zusammengezimmerten Räumen, wo der Gefangene mit Knöcheln und Handgelenken am Fußboden festgebolzt ist, so dass er gekrümmt hocken muss – eine verbreitete Stressposition. Im Camp Nama wurde der Raum „Black Room“ genannt, weil die Wände schwarz gestrichen und fensterlos waren. Die Gefangenen wurden stehend in Stresspositionen versetzt, die Musik kam aus dem Ghettoblaster auf einem Tisch. Auf der Forward Operating Base Tiger war die Anlage von so hoher Qualität, dass sie auch bei der Feier zum 4. Juli zum Einsatz kam.

Eine Stressposition hat einen doppelten Effekt. Erstens ist die Haltung extrem schmerzhaft, und wenn der Gefangene sich zu bewegen versucht, fügt er sich selbst weitere Schmerzen zu. Zweitens, wie die Musikologon Suzanne Cusick feststellt, funktioniert die ohrenbetäubende Musik wie „mentale Ketten“, die es unmöglich machen, den psychischen Widerstand gegen den physischen Schmerz aufrechtzuerhalten: Die Musik, die im Schädelinnern dröhnt, ertränkt förmlich die Gedanken, und die Fähigkeit, die eigenen Worte zu hören, geht verloren. Diese Überlastung des Gehörsinns ist aber nur eine Technik von vielen. Sie bilden verschiedene Cluster und erfindungsreiche Kombinationen, wie die Verbindung von Stresspositionen bei extremen Temperaturen mit Stroboskop-Licht und westlicher Popmusik.

Musikfolter ist eine perfide Mischung aus kulturell konnotierter Demütigung (psychische Zerrüttung) und sonischem Bombardement (physische Zerrüttung). Die Musik wird sehr laut abgespielt, aber nicht jenseits der Schmerzgrenze. Die Geräuschintensität, gemessen in Dezibel, bleibt unter etwa 79 dB. Das Gehör des Gefangenen soll mit Geräuschen bombardiert werden, ohne ihm zu schaden – mit Rücksicht auf das Verhör.

Auf der Mosul Air Force Base baute man eine Musikfolterzelle („the disco“) in einen Schiffscontainer, der außerhalb des Lagers in der Hitze der Wüste stand. Zur donnernden Death-Metal-Musik, die von dem metallischen Inneren des Containers zurückgeworfen wurde, schrie der Leiter des Verhörs, Tony Lagouranis, Fragen in den Sandsack, der über den Kopf des Gefangen gezogen war. In seinem mit Allen Mikaelian gemeinsam verfassten Buch Fear Up Harsh: An Army Interrogator’s Dark Journey Through Iraq beschreibt er, dass er das Verhör abbrechen musste, weil er sonst dem Gefangenen die Finger abgehackt hätte, so sehr hatte ihn selbst die Musik unter Stress gesetzt.

Folteropfer haben berichtet, dass sie sich nach einem längeren Zeitraum unter Folter nicht einmal mehr an den eigenen Namen erinnern oder die Gesichter ihrer Angehörigen vergegenwärtigen können – unter anderem ist die massive Einwirkung von Musik eine effektive Methode, um die „Gedanken der Gefangenen zu ertränken“. Wenn die Gefangenen ihr Gefühl für die eigene Identität verlieren, wenn sie Gefahr laufen zu vergessen, wer sie sind, und sich nicht mehr an die Menschen erinnern, die ihnen am meisten bedeuten: Was vergessen sie dann sonst noch? Die Frage drängt sich auf, welche Qualität die Information hat, die unter solchen Umständen gewonnen wird. Welchen Wahrheitsgehalt hat sie eigentlich? Ist es nicht sogar so, dass minderwertige Informationen die Arbeit der Geheimdienste weltweit eher erschweren? Hätte es eine tickende Bombe gegeben, wäre sie längst in die Luft geflogen und die Folter wäre zu nichts nutze gewesen.