Da steht er, der Freedom Tower. Das höchste Gebäude von New York City. Hier war lange die berühmteste Baustelle der Welt. Das neue World Trade Center, nachdem das alte, Sie wissen schon. Es war nicht die größte Baustelle der Welt, die ist in Dubai, oder Shanghai, oder Shenzhen. Aber es war eine Großbaustelle, die uns allen viel bedeutete.

Eine Großbaustelle ist wie die Aufführung einer Oper, Die Walküre oder Fidelio. Mit viel Drama, dem Dirigenten (der Bauträger), dem Tenor (der Architekt), dem Chor – die Bauarbeiter – und den Musikkritikern. Das sind wir, die Journalist*innen. Wir beißen uns (idealerweise) in den Eingeweiden des Großbaustelle fest. Wir wissen, dass sich Larry Silverstein, der Bauträger, mit seinen Versicherungen so verheddert hat, dass das fünf Jahre Bauverzögerung verursacht hat, dass er den Architekten Daniel Libeskind kaltgestellt hat, warum die Baugrube ausgeschachtet werden musste bis in die Tiefe des Granitbodens, und wer für das alles aufkommt, nämlich die Hafenbehörde, die dafür ihrerseits den Arbeitspendler*innen aus New Jersey die Brückenzölle erhöht. Aber unsere Chefredakteure wollen das schon lange nicht mehr hören. Die wollen nur das Positive.

Großbaustellen sind nämlich eigentlich ein riesiges Spielzeug für Jungs. Als der Potsdamer Platz in Berlin noch eine gewaltige Großbaustelle war, fuhren mein Bruder und ich mit unserem kleinen Neffen dorthin. Er klammerte sich an den Zaun und starrte in die Baugrube, wo Bagger und Schutttransporter hin- und her rangierten. Wir hätten ihn abends wieder abholen können – er hätte nicht gemerkt, dass wir weg gewesen wären. Ähnlich geht es größeren Jungs, von den Chefredakteuren über den Bürgermeister bis herauf zu Edzard Reuter, dem Herrn der Daimler-Benz-Baustelle am Potsdamer Platz. Sie reden über architektonische Denkmale, städtebauliche Strategien und die Aufwertung von Stadtquartieren, und meinen doch immer nur: Bagger! Bagger! Bagger!

Wozu gibt es Großbaustellen? Damit schnell und effektiv große Mengen an benutzbaren Raum errichtet werden können? Nein, weil sie kompliziert sind und die Verantwortung zersplittert ist. Das ermöglicht es, mit Baggern große Steine zu bewegen, und die Rechnung wird erst präsentiert, wenn die Veranwortlichen schon über alle Berge sind. Denn das Wichtigste ist, Wolkenkratzer wachsen zu sehen. Das Geld kommt schon vor irgendwoher, wenn nicht von der Hafenbehörde, dann vom Staat, den Banken oder irgendwelchen russischen Oligarchen. Das größte Hochhaus der Welt, der Burj Khalifa, steht in Dubai. Es ist fast einen Kilometer hoch. Es ist kein Zufall, dass Gebäude, bei deren Bau Geld keine Rolle spielt, fast allesamt in staatsmonopolkapitalistischen Systemen oder in reichen Ölstaaten erbaut werden, die dem Westen den Finger zeigen wollen.

Wer schafft an auf der Großbaustelle? Großbaustellen bilden ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen, wie eine Mormonenehe mit wechselnden Partner*innen oder das Raumschiff Enterprise. Im Mittelpunkt steht der Investor. Oder, genauer, ein Mann, der als Investor auftritt. Die eigentlichen Geldgeber sind die Banken; nicht die Banken selber allerdings, sondern deren Kunden, die Immobilienfonds zeichnen, weil sie Steuern sparen. Der Investor, den wir im Fernsehen sehen, ist in Wirklichkeit ein Bauträger, der einen Generalübernehmer beauftragt hat, und der einen Generalunternehmer, und der beauftragt die Handwerker. Dem Investor zur Seite im Rampenlicht steht der Architekt. Der hat auch irgendwie Verantwortung. Die öffentliche Hand ist mit mehreren, meist untereinander zerstrittenen Politikern repräsentiert, weil das Grundstück der Stadt, dem Staat oder der Hafenbehörde gehört, und weil Politiker gerne rote Bänder durchschneiden.

Alle Beteiligten haben verschiedene Interessen. Der Architekt möchte gerne, dass ein stattliches Gebäude entsteht, Geld spielt keine Rolle. Deshalb mögen Architekten es nicht, wenn die Presse an den fünf Meter hohen Alabastersäulen aus Carrara am Kanzleramt herumkrittelt oder an den Fassadenkristallelementen der Elbphilharmonie. Die Politiker möchten eigentlich das gleiche. Sie wollen nur nicht wegen Verschwendung gescholten werden, deshalb eröffnen sie am liebsten Gebäude ihrer Vorgänger. Nur Ruhm und Spaß, keine Verantwortung. Der Bauträger wiederum wird nach dem Bauvolumen entlohnt. Bleibt die Bank. Die Bank beleiht das Gebäude bloß; solange der Kredit überhaupt zurückgezahlt wird, am besten vom Staat, ist es nicht in ihrem Sinne, die Kreditlinien zu verkürzen. Vielleicht sind die Interessen doch nicht so verschieden.

Eine Großbaustelle hat einen oft mythischen Wert. Beim World Trade Center ging es darum, den Terroristen eine Trutzburg entgegenzubauen: Wir sind immer noch da! Das neue World Trade Center werdet ihr nicht zerstören! Dafür wurden allerlei Symbolismen zugefügt, eine Reminiszenz an die Spundwand etwa, die an 9-11 das Wasser des Hudson River forthielt. Natürlich richtet sich die Botschaft an das heimische Publikum. Die Terroristen sind längst damit beschäftigt, Assad zu bekämpfen.

Symbole sind nicht nur in der westlichen Welt wichtig. In Pudong, Shanghai, bilden die chinesischen Großbaustellen am Ostufer des Huang Pu den Kontrapunkt zur 150-jährigen Kolonisierungsgeschichte der Stadt, ihrerseits symbolisiert von The Bund, errichtet von den Briten am Westufer. Großen Streit gab es in Pudong um ein Hochhaus einer japanischen Firma; es hatte ganz oben eine große, runde Öffnung. Für die Chinesen symbolisierte das die Sonne des verhassten japanischen Regimes, das Shanghai im Zweiten Weltkrieg besetzt hatte. Aus dem runden Loch musste ein eckiges werden.

Auch die Großbaustelle am Potsdamer Platz war ein historisches Symbol. Das schnelle Berlin der Zwanziger! Autos! Verkehrsampeln! Moderne Zeiten! Und trotzdem wirkt heute alles wie eine riesengroße Märklin-Anlage. Zu künstlich. Zu sauber. Mit dem Stadtschloss wird es wahrscheinlich ähnlich sein. Nur die Tourist*innen werden es lieben.

Heute hat Berlin eine weltberühmte Nicht-Großbaustelle. Ein stiller Flughafen (zwei eigentlich, wenn man Tempelhof bedenkt). Flugzeuge landen auf dem BER nicht, aber man kann ihn mit dem Fahrrad erreichen. Vegan und selbstbestimmt. Während sich die Bauherren über die Schuldfrage stritten, haben sich die Architekten mit den Plänen davongemacht und niemand weiß, wie man fertigbaut. Wie auf dem „Planet der Affen“, wo die Schimpansen staunend in den Resten der U-Bahn von New York stehen. Das letzte Mal war ich beim World Trade Center, als das Richtfest für Hochhaus 3 gefeiert wurde.

Wir stellten fest, dass es heutzutage auf Richtfesten kein Bier mehr gibt. Dann durften wir nach oben; alles war noch nackter Beton, ohne Wand, um die offene Fläche ein großes Netz gewickelt. Wie blöd, kann man gar nicht fotografieren, dachte ich, und schob das Netz weg. Erst nach dem Foto dämmerte mir, dass es vom Betonrand fünfzig Stockwerke direkt nach unten ging. Das wäre ein wirklich symbolbeladener Tod gewesen, aber ich glaube, mich auf dem BER zu Tode zu langweilen, wäre mir lieber.