Es ist weitgehend bekannt, dass der Zerfall des Kommunismus im Jahr 1989 eine einzige Akteurin auf der politischen Bühne der modernen Geschichte zurückgelassen hat: die westliche, liberale Demokratie. Einigen schien das so selbstverständlich, dass sie gleich das Ende der Geschichte ausriefen. Zwar werden Menschen sicher weiterhin mit politischen und militärischen Mitteln maßgebliche Errungenschaften für die Welt erkämpfen. Aber kein dadurch geschaffenes politisches System oder Regime wird jemals ideologische Überlegenheit über die liberale Demokratie für sich beanspruchen. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der diese These prägte, sah in der liberalen Demokratie die endgültige Form menschlichen Regierens.

Ein Nebeneffekt der euphorischen Verkündung vom Ende der Geschichte ist allerdings bei dieser Vorstellung von Demokratie weitgehend unbemerkt geblieben. Die Demokratie hat in einem radikalen Sublimierungsprozess den ganzen Dreck historischer Taten hinter sich gelassen. Die Vorstellung von Demokratie wurde rückwirkend nicht nur von ihren historischen Bedingtheiten gereinigt, welche sie zunächst überhaupt hervorbrachten – sondern sie wurde gründlich weißgewaschen. Die Demokratie tauchte ohne einen einzigen Tropfen Blut an den Händen aus einer im Verschwinden begriffenen Geschichte auf, als hätte sie nie etwas mit der Gewalt, den Lügen und den Ungerechtigkeiten zu tun gehabt, von denen die Geschichte im Allgemeinen voll ist. Die Demokratie wurde in einer engelsgleichen Wende zu einer transhistorischen Instanz absoluter Unschuld. Jene, die einst autorisiert wurden, im Namen der Demokratie zu handeln, sind automatisch unter Straffreiheit gestellt. Sie mögen ganze Gesellschaften zerstört haben, Millionen in die Armut gestürzt oder die Welt an den Rand atomarer und klimatischer Katastrophen geführt haben, die Demokratie wird sie immer entschuldigen. Denn sie macht nie etwas falsch.

Mit ihrer Geschichtslosigkeit wurde die Demokratie zu so etwas wie einem göttlichen Wert – nur dass nicht alle gleichermaßen von ihrer Gnade gesegnet werden. Je engelhafter sie wird, desto kulturell eigener wird sie auch. Die einzig wahre Demokratie ist die westliche Demokratie; allgemeingültig, wenn sie auf die Schwachen und Armen angewendet wird, speziell, wenn es um die Verteidigung und Privilegien der Reichen und Mächtigen geht. Das macht sie jedoch keinesfalls weniger erhaben. Ganz im Gegenteil, die Vorstellung von Demokratie, wie sie heute im Westen heraufbeschworen wird, hat ein derartig hohes Level an engelsgleicher Sublimität erreicht, dass man sich zu Recht fragen könnte, ob sie noch etwas Menschliches an sich hat. Ist sie sterblich, wie der Mensch? Wenn sie jemals „geboren” wurde, bedeutet es auch, dass sie vielleicht eines Tages „tot“ sein wird? Weiß jemand, wann dieser Tag kommen könnte? Weiß jemand, ob dieser Tag vielleicht schon gekommen ist, ohne dass es bemerkt wurde?

Sublimierung, wissen wir von Freud, ist das Resultat einer Verdrängung. Und wo Verdrängung stattfand, wird das Verdrängte sich früher oder später, bei dieser oder jener Gelegenheit, in dieser oder jener Form, zurück melden – unerwartet, heftig, peinlich, verräterisch, schmerzhaft, unvermeidbar, aber menschlich – wahrscheinlich allzu menschlich.

Wenn das passiert, werden wir plötzlich mit unserem niedrigsten Selbst konfrontiert, mit unkontrollierbaren Ausbrüchen unserer Urtriebe, mit dem Schmutz und Gestank unserer Eingeweide. Was die Sexualität betrifft, hat Freud mit einem Zitat des Heiligen Augustinus an ihre Ursprünge in unser tierischen Vergangenheit erinnert: „Inter faeces et urinam nascimur,” oder auf Deutsch, „Zwischen Kot und Urin werden wir geboren.“

Weshalb sollten wir glauben, die Demokratie wäre von noblerer Herkunft? Wie konnten wir all das Blut der Schlachtfelder, auf denen sich Menschen für oder gegen die Demokratie niedermetzelten, vergessen – all die dreckigen, Helden und Feinde wegsperrenden Gefängnisse, den Gestank enthaupteter Körper bei den Schafotten, die instinktive, tierische Wut von Verteidigung und Angriff?

In der Tat haben wir nie ganz vergessen, wir haben nur für eine Weile verdrängt. Denn, wie gesagt, ist jede Verdrängung, egal wie stark sie ist, letztlich zum Scheitern verurteilt.

Was westliche Demokratien heute erleben, ist nichts anderes als die mächtige Wiederkehr von etwas Unterdrücktem. Diese Verdrängung, die nun derart irrational und unkontrollierbar in Erscheinung tritt, ist die historische Wahrheit hinter der modernen Auffassung von Demokratie; oder, genauer gesagt, der unversöhnliche Gegensatz ihrer dialektischen Entwicklung, ihr Werdegang, in Hegeljargon. Das wird vor allem in dem perversen Missbrauch der wichtigsten demokratischen Institutionen und Grundsätze durch einen rücksichtslosen zeitgenössischen Kapitalismus sichtbar. Die unbestreitbaren Konsequenzen zeigen sich im totalen Zerfall von einst demokratisch vereinten nationalen Gesellschaften, im kontinuierlich wachsenden Fortbestehen kolonialer Ausbeutung, in zunehmender Wiederaufrüstung bis hin zu offener Kriegstreiberei, und schließlich, und am gefährlichsten: in der realistischen Aussicht auf Faschismus als allgemein willkommene Lösung für die aufkommenden Krisen des Kapitalismus.

Kurzum: Heute kehrt die Geschichte aus ihrer ideologischen Verdrängung zurück. Sie hat die gut geschützte und gepflegte weiße Haut der westlichen Demokratie heruntergerissen, um das schmutzige, stinkende Tun ihrer Eingeweide aufzudecken. Aber nichts an der Rückkehr des Unterdrückten ist Unmenschlich. Im Gegenteil, geschichtlich zu sein, heißt nur, menschlich zu sein, sterblich und vergänglich. Soweit sie geschichtlich und also menschlich ist, kam mit Sicherheit auch die Demokratie nicht weit von der Pisse und Scheiße der Menschheitsgeburt zur Welt. Und wie der Mensch hat auch sie die Wahl, an einem anderen als an diesem Ort zu sterben. Man sollte niemals vergessen, dass die Geschichte die einzige Dimension ist, in der die erhabensten Ideale menschlicher Freiheit real werden können.

Wenn man jetzt das letzte Viertel eines Jahrhunderts reflektiert, in dem die Demokratie die engelsgleichen Höhen ihrer historischen Existenz erreichte – eine kurze Epoche, die soeben vor unseren Augen ihr Ende nimmt –, lässt sich erkennen, dass die Geschichte selbst die am besten versteckte, oder, um es anders zu sagen, die am stärksten verdrängte Wahrheit der Demokratie gewesen ist. Nun beendet, erklärt es sich gewissermaßen rückwirkend, warum der liberal-demokratische Developmentalismus – der Glaube, dass sich die Demokratie nach dem Zerfall des Kommunismus nur schrittweise entwickeln kann, indem sie immer inklusiver, rechtschaffener, und transparenter wird – zum Scheitern verurteilt war. Der Fall von Edward Snowden ist das perfekte Symptom dieses Scheiterns. Er zeigt deutlich, dass noch die nobelste, engelhafteste Treue zu den erhabensten demokratischen Werten einen schmutzigen Betrug an ihrer tatsächlichen Realität implizieren kann. Einzig darum geht es in der Geschichte – um den Schritt über die Unschuld hinaus. Nur ein Stein ist unschuldig, schrieb Hegel einst; weshalb kein Mensch unschuldig ist, solange wir geschichtliche Wesen sind.