Was genau ist Angst? Wie kann ein und derselbe Begriff einerseits die Panik beschreiben, die Reisende überkommt, wenn ihr Flug in Turbulenzen gerät, und andererseits die alarmistischen Narrative, die über die wachsende Zahl von Geflüchteten an den Außengrenzen Europas entstehen? Wie funktioniert Angst als politisches Instrument? Genauer gesagt, wie kommt es, dass gefährdete Menschen uns genauso viel „Furcht“ einflößen wie Spinnen, eine Krebsdiagnose oder ein nächtlicher Gang über den Friedhof?

Es stellt sich die Frage, wie Emotionen sich als soziale Formen verfestigen. Anders ausgedrückt: Wie wird aus Zuneigung und Liebe eine Kernfamilie, und wie wird aus Angst Migrationspolitik? Wie lernen wir – so wie Lauren Berlant es in Cruel Optimism (Duke University Press, 2011, ausführt –, unsere Identität an Abstrakta zu binden wie Nationalität, sexuelle Identität, unterschiedliche politische Ökonomien oder schlussendlich an eine „Lebensweise, der niemand je zugestimmt haben will“?

Sinan Antoon sprach als erster Redner im Rahmen der Veranstaltung Angst aus der Reihe Wörterbuch der Gegenwart im HKW. Und mit der Frage nach der Verflechtung von Gefühl und Ideologie wandte er sich gegen die Essentialisierung von Identitäten wie islamisch, muslimisch oder arabisch. Als Kampf der Kulturen und nicht als Folge geopolitischer Auseinandersetzungen geframt, sorgten 9/11 und der anschließende „Krieg gegen den Terror“ für die Aufrechterhaltung einer von kulturellen und zivilisatorischen Begriffen geprägten Darstellung des Islam, die spezifische politische Umstände völlig außer Acht lasse.

Genährt von uralten orientalistischen Tropen ist der Islam zur Chiffre für alles Brutale, Rückständige und Verstörende geworden, für alles, was sich gegen „unsere Lebensweise“ richtet. Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass zum Beispiel der Dschihad im Wesentlichen eine Folge der CIA-Intervention in Afghanistan gewesen ist. Von 1979 bis 1989 trainierte, bewaffnete und finanzierte der Geheimdienst die dortigen Mudschahedin. Darüber hinaus wurden die afghanischen Dschihadisten in den westlichen Medien glorifiziert, sei es ganz explizit in Rambo III (1988) oder allegorisch in Der Wüstenplanet (1984).

Sinan Antoon zufolge ließen die auf solche Weise verbreiteten chauvinistischen Narrative und rassistischen Stereotype die Kultur des Nahen Ostens zum „Tatort“ werden: zum Gegenstand von „forensischem Interesse“, dessen „Essenz“ den Schlüssel zur Aufdeckung der mörderischen Absichten nahezu überall lauernder Fundamentalist*innen und Terrorverdächtigen enthalte. Nach Schätzungen der Human Rights Data Analysis Group sollen etwa 99.000 Einwohner Pakistans von SKYNET, einem Überwachungsprogramm der Nationalen Sicherheitsbehörde der USA (NSA) zu Unrecht als Terrorist*Innen eingestuft worden sein, um nur ein Beispiel zu nennen. Da es also schlicht keine „Essenz“ gibt, bleibt das Wesen der islamischen/arabischen/muslimischen Kultur schwer fassbar, unbegreiflich und unergründlich. Und das wiederum macht den „Krieg gegen den Terror“ zum permanenten Krieg, der selbst die Voraussetzungen für das schafft, was er zu vernichten vorgibt.

Arabische Wörter, so Antoon, würden in der westliche Medien- und Unterhaltungsindustrie zwar transliteriert, aber gemeinhin nicht übersetzt, was das Gefühl von Fremdheit und Distanz verstärke. Ein Beispiel dafür sei der Begriff „Allah“, das arabische Wort für Gott, das arabischsprachige Muslim*innen, Christ*innen und Jüd*innen gleichermaßen benutzten. Hinzu komme eine unverblümte Kriminalisierung der arabischen Schrift. Der „Krieg gegen den Terror“ habe nicht zur Analyse von Außenpolitik und geopolitischen Strategien geführt, sondern zur Verallgemeinerung und Normalisierung eines fließenden Übergangs zwischen Paranoia und Rassismus, beziehungsweise Nativismus.

Ein Nachdenken über das Verhältnis von Macht und Angst, so Allen Feldman, führe häufig zu einer Kopplung von Affekt und Virtualisierung, die der Angst von ihrer materiellen Genese bis zur immateriellen Mimesis folge. Unter Bezug auf Alexandre Kojèves Auslegung der Hegel‘schen Dialektik von „Herrschaft und Knechtschaft“und Simone Weils Die Ilias oder das Poem der Gewalt [pdf] beschreibt Feldman Angst als etwas, das die Macht habe, Menschen zu Dingen zu machen. Während bei Hegel der Herr die Todesangst des Anderen repräsentiere, der zum lebendigen Archiv der Unterwerfung werde, erscheine der Krieg in Weils Schriften als Struktur virtualisierter Angst, die als Entsubjektifizierungsmechanismus funktioniere.

Aktuell, so Feldman, novellierten neue Formen von Exekutivmacht diese angsterzeugenden Regime: vom Reizentzug als Foltermethode bis hin zur allgemeinen Dematerialisierung von Macht, wie etwa die Gewalt, die durch das Ausblenden von Gewalt ausgeübt wird. Durch die Entkoppelung von „Faktizität“ und „Tatsächlichkeit“, aus der sich ein politischer Mehrwert gewinnen lasse, werde die Zeit des Krieges als „Zeit außerhalb der Zeit“ erlebt. Jacques Derrida hat diese zeitliche Dimension als contretemps bezeichnet, was gemeinhin mit Rückschritt übersetzt wird, aber buchstäblich auf eine Erfahrung von Zeit hinweist, die einem unidirektionalen Fortschreiten zuwiderläuft, beziehungsweise im Wesentlichen „aus den Fugen gerate“. Trumps Wahlsieg war Feldman zufolge ein contretemps, ein Rückschritt, eine Gegen- oder Unzeit, die sich mit einer Umkehrung des Faktischen und einer Phobie vor der Tatsächlichkeit verband, und damit sowohl eine Verletzung der moralischen Ordnung als auch der gesellschaftlichen Regeln darstellte.

Wie es sich in der Rhetorik des Kollateralschadens (als Unfall oder Rückschlag) zeigt, steht contretemps für die Aktionen des Nicht-Handelns und für das Zerreißen einer einzigen, organisierten Temporalität, was unsere Fähigkeit untergräbt, „Kausalität unmittelbar während des Geschehens zu erfassen“. Geht es um zivile Opfer in Gaza, beharrt Israels Premierminister Benjamin Netanjahu darauf, dass dies nicht die Absicht des Angreifenden (Israel) gewesen sei, sondern die der Angegriffenen (Palästinenser*innen, die es auf medienwirksame Tote abgesehen haben). Hier stehe contretemps für „eine Ballistik der Unschuld“, könne aber auch auf das Verschwindenlassen als Form eines leisen, beziehungsweise fast unmerklichen Genozids verweisen. Das gewaltsame Verschwindenlassen als Mittel der Politik – seien es Deportationen, Entführungen oder die heimliche Beseitigung sterblicher Überreste – verletze Feldman zufolge „das Daseinsrecht auf Erden“ und kreiere eine angsterzeugende (Un)Sichtbarkeit, also ein „offenes Geheimnis“. Das Regime des Verschwindenlassens lässt sich als eine Form des politischen Kannibalismus beschreiben, sofern er als allegorischer Ausdruck der xenophoben Angst, vom Anderen verzehrt zu werden, verstanden wird: Systematisches Verschwindenlassen verweist auf präventiven Verzehr, auf die Auslöschung des Anderen.

Joseph Vogl knüpfte an die Frage von Temporalität und präventiver Politik an. Er thematisierte die Praxis des Profiling als ein Modell, das irreversibel, aber nicht unbedingt fortschrittlich sei und in dem die Vergangenheit einen unerschöpflichen Quell an Informationen biete, die darauf warteten, entdeckt zu werden. Hier sei die Angst weder Emotion noch Affektion, sondern systemischer Operator, Medium und Koordinate politischer Entscheidungsprozesse zugleich.

Angst, zitiert Vogel Niklas Luhmann, sei auch eine Ressource, die weder rechtlich reguliert noch widerlegt oder bestritten werden könne: Angst sei immer authentisch, sie widerstehe jeder Kritik. Angst übersetze die Ungewissheit von Sachlagen in Angstgewissheit und berge somit das Potenzial, zum Grund politischer Handlungen zu werden, die sich selbst von der Last ihrer Begründung befreiten, wie es in dem politischen Slogan „Wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen“ zum Ausdruck komme. Und dies löse eine paradoxe, sich selbst verstärkende Spirale der Angst aus: Der gebannte Blick auf ungewisse Bedrohungen mache die Ungewissheit von Bedrohungen umso bedrohlicher. Moderne Gesellschaften und ihre Präventionsmaßnahmen basieren auf Angst, auf einer zunehmenden Kriminalisierung und der damit einhergehenden Sanktion purer Möglichkeiten anstelle wirklicher Vorfälle. Angesichts der weltweiten Verschmelzung von Überwachung und Spektakel wird Kommunikation immer mehr zum Ausgangspunkt von Kontrolle. Die Beschwörung einer „konkreten, unmittelbar bevorstehenden Gefahr“, so wenig greifbar sie auch sein möge, legitimiert den Präventivgewahrsam oder auch die Ex-ante-Legalisierung von Folter in der Haft sowie erniedrigender Behandlung. Sicherheit und Unsicherheit (Terror) heben sich also nicht gegenseitig auf, sondern werden zu einer sich wechselseitig verstärkenden, stetig wachsenden Dyade, sich gegenseitig bedingenden Antagonismen.

Das angsterzeugende Potenzial präventiver Machtformen bedingt eine Reihe von Vereinbarungen, die dazu führen, dass Privatsphäre und Autonomie gegen Sicherheit eingetauscht werden. Die Tyrannei, so Hannah Arendt, basiere auf Angst: dem stets wiederkehrenden, anti-politischen Prinzip innerhalb demokratischer Politik. Angst ist, aus dieser Perspektive, das bevorzugte Mittel anti-politischer Politik. Aber um Sara Ahmeds The Cultural Politics of Emotion (Edinburgh University Press, 2014) zu zitieren, sichert Angst auch Formen des Kollektiven: Sie richtet Körper mit Körpern und anhand von anderen Körpern aus. Individuelle Subjekte entstehen durch diese Ausrichtungen, durch die Unterscheidung zwischen denen, die gefährdet sind, und denen, die gefährden.

Die vermeintliche Hyper-Mobilität der Gefährder*innen (Terrorist*innen) liefert den Anlass für die Einschränkung der Mobilität von Geflüchteten und Migrant*innen und begründet eine globale Ökonomie des Gewahrsams (für alle mit Angst behafteten Körper) und der Zirkulation (von Kapital und Informationen). In dieser Ökonomie, meint Ahmed, seien alle Asylsuchenden potenzielle Terrorist*innen, und kontinuierliche Überwachung werde „als kontinuierliche Strategie des Überlebens aufrechterhalten“ – eines „Überlebens“ der einen auf Kosten der anderen, die in Frachtcontainern erstickt sind oder tot unter Lastwagen gefunden wurden.